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Cover Lettre International 79, Endy Hupperich
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LI 79, Winter 2007

Lampenfieber

Die physischen Symptome des Lampenfiebers sind mit denen identisch, die in medizinischen -Traktaten des Mittelalters als Symptome des Verliebtseins beschrieben werden. Das Syndrom besteht aus Zittern, zerstreuter Sinneswahrnehmung, Frösteln und Fieber, Übelkeit und unerklärlicher Melancholie. Bei beiden Krankheiten handelt es sich um rein kulturelle Phänomene, nicht nur, weil sie Hervorbringungen relativ hochentwickelter Gesellschaftsordnungen sind, sondern auch, weil sie in keiner Weise technisch oder physisch notwendig sind für die Handlungen, auf die sie vorbereiten: Sie sind im Gegenteil oft die unmittelbare Ursache dafür, daß es nicht so läuft wie gewünscht.

Es ist keineswegs so, daß die Krankheit, wie allgemein angenommen wird, mit dem Älterwerden zwangsläufig verschwindet oder auch nur sich weniger stark bemerkbar macht. Die Hände des Pianisten in fortgeschrittenem Alter zittern zu Konzertbeginn genauso wie die des Debütanten. Es mag allerdings sein, daß sich mit dem Älter-werden die Wirksamkeit gewisser magischer Formeln zur Beherrschung der Symptome erhöht, weil sie mit umständlicheren Ritualen kombiniert werden. „Hals- und Beinbruch“, Merde, In bocca lupo – keine dieser Formeln ist sonderlich wirksam, solange ihr nicht eine komplexe, von Künstler zu Künstler verschiedene Zeremonie vorausgegangen ist: Bei Pianisten ist das Waschen der -Hände in -heißem Wasser am häufigsten anzutreffen, aber das Knacken mit den Fingergelenken oder Yoga tun es auch, vorausgesetzt, man hält sich bei jedem Konzert an dasselbe Verhaltensmuster.

„Das Lampenfieber ist der einzige lichte Augenblick in der Karriere eines Künstlers“, hat Moriz Rosenthal einst geschrieben; dies ist eine rationale Sicht der Dinge, gemildert nur durch den erleuchtenden Witz im Worte „Lampenfieber“. Die schreckliche Angst vor einem Konzert ist allerdings keine rationale Reaktion, sondern ein Akt des Glaubens, der dem Willen nicht zugänglich ist und nur den Erwählten zuteil wird. Sie ist eine Gnade, hinreichend im alten jesuitischen Sinne, das heißt eine für sich allein nicht hinreichende, aber notwendige Bedingung für den Erfolg. Leopold Godowsky, seinen Kollegen zufolge der größte aller Pianisten, wenn er in privatem Kreise spielte, aber bei öffentlichen Auftritten zu nervös, um sein Bestes leisten zu können, wurde mit einem paradoxerweise lähmenden Übermaß an Gnade beschenkt: Für einen oder zwei Pianisten zu spielen ist normalerweise weit beängstigender, als dasselbe für ein Publikum von mehreren tausend Zuhörern zu tun.

Lampenfieber ist ein historisches Phänomen. Sein Ursprung kann mit der immer größer werdenden Virtuosität der Aufführungen in Zusammenhang gebracht werden, bekam aber Flügel erst mit der Forderung, auswendig zu spielen. Diese Entwicklung begann im 19. Jahrhundert und birgt ein Paradox: Das Auswendigspielen erweckt den Anschein, daß es sich bei der Aufführung um eine spontane Schöpfung des Pianisten handle – aber wehe dem Pianisten, der vom Text abweicht! Der englische Ausdruck für Auswendigspielen, playing by heart, ist eine hübsche Wendung mit einem giftigen Stachel. Mit der öffentlichen Forderung, der Pianist solle auswendig spielen, kam auch die Forderung nach Texttreue auf. (Das erste große Zeitalter pianistischer Virtuosität war auch das Zeitalter der deutschen Textkritik, und Franz Liszt selbst war ein gewissenhafter Herausgeber der Werke anderer Komponisten. Selbst seine berüchtigten Bearbeitungen Bachscher Orgelwerke für Klavier sind – mit einer Ausnahme – Musterbeispiele strikter Orientierung am Urtext, mit minimalen Änderungen, die erforderlich sind, um Werke für zwei Manuale plus Pedal für das einzurichten, was zwei Hände auf einer Tastatur bewältigen können.)

Die verflixte Zweideutigkeit im Zentrum des Auswendigspielens zeigt sich schon am Beginn seiner Geschichte. Clara Schumann machte den Anfang mit dem Verzicht auf die Noten im öffentlichen Konzert, doch ausgerechnet in den Werken ihres Gatten sind die fiesesten Fallen für das Gedächtnis ausgelegt. Das letzte Stück der Kreisleriana ist vielleicht das berühmteste Beispiel. Während das melodische Muster des Hauptthemas bei jeder Wiederkehr unverändert bleibt, erklingt der Baßton nie dort, wo man ihn erwartet, sondern erscheint, dank immer neuer Synkopierung, jedesmal als Überraschung. Ich habe dieses Stück noch nie ohne mindestens einen Gedächtnisfehler öffentlich gespielt gehört.

Es paßt daher nur allzu gut, daß der berühmteste aller Blackouts des Erinnerungsvermögens durch eine – vielleicht apokryphe – Geschichte Clara Schumann zugeschrieben wird. Sie soll nämlich der Erzählung nach einst in Mendelssohns Spinnerlied gefangen gewesen sein wie ein Hamster in einem Laufrad, außerstande, den Ausgang zu finden, wenn wieder einmal das erste Thema vorüberzog, bis sie sich schließlich, nach acht Durchgängen, an die unscheinbare Variante erinnerte, die zur Schlußkadenz führt. Der anwesende Mendelssohn soll ihr hinterher seinen warm empfundenen Dank für ihre offenkundige Liebe zu seinem Werk zum Ausdruck gebracht haben.

Hier beginnt der latente Sadismus im Konzept der Virtuosität sein Haupt zu erheben. Ein Klavierabend ist eine relativ zivilisierte Angelegenheit: Die unverhohlene Barbarei der Menge, die dem zum Selbstmord Entschlossenen, der unruhig am äußersten Rand des Daches steht, „Springen! Springen!“ zuruft, ist im Konzertsaal fehl am Platz. Die Atmosphäre, die jedes Konzert zu einem grausamen Initiationsritus macht, bei dem der Virtuose sich beweisen muß, nur um sich am nächsten Abend in einer anderen Stadt demselben Ritual zu unterwerfen, diese Atmosphäre wird auf subtilere Weise geschaffen: Ein gezielter Huster, bevor der Interpret beginnt, führt oft schon zum gewünschten Ergebnis.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.