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Cover Lettre International 43, Giulio Paolini
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Inhaltsverzeichnis

LI 43, Winter 1998

Erbschaft des Jahrhunderts

Nach den großen Träumen - In Ungewißheit und in Würde leben

Neulich hörte ich ein paar Leute über die Zukunft des einen oder anderen gesellschaftlichen Trends diskutieren. Es war im Radio und ich hörte nicht besonders aufmerksam zu, und ich weiß nur noch daß irgend jemand sagte: Was also können wir von dem oder jenem erwarten - wenn wir in das dritte Jahrtausend eintreten?

In das dritte Jahrtausend, sagte er: Zu einem Thema, zu dem man sich normalerweise auf nicht mehr als ein oder zwei Monate im Voraus festlegen sollte. Und worüber wir nur in einer Hinsicht Gewißheit haben: es wird sich ändern. Das Leben von heute ist zu kompliziert und zu empfindlich, als daß es eine langfristige Planung zuließe. Selbst die traditionellen Ecksteine der normalen menschlichen Lebensspanne werden schnell umgestoßen, versetzt, ausgewechselt. Kindheit, Jugend, Mutterschaft, Vaterschaft, Sexualität, Familie, Arbeit, Karriere, Entlohnung, Ruhestand, ja sogar der Tod: alles ändert seinen Sinn, seine Position und Bedeutung. Ein Mensch, der 1980 geboren ist wie meine jüngere Tochter, kann nicht soviel Stabilität und Gewißheit im Leben erwarten wie jemand, der 1880 geboren wurde. Sie hat heute mehr Wahlmöglichkeiten, mehr Risiken, mehr Gelegenheiten, mehr Mobilität, aber auch weniger Zusammenhalt, weniger Vertrauen, weniger Sicherheit, weniger Gewißheit über die Gesellschaft, in der sie lebt - und über die Art von Leben, das sie erwartet.

Ich sage nicht, daß meine Tochter besser oder schlechter daran ist als Menschen, die hundert Jahre vor ihr geboren wurden. Diese Art Vergleich erscheint mir sinnlos. Wir können das Leben anderer Menschen in anderen Zeiten nicht nach unseren eigenen Normen von gut oder schlecht beurteilen oder einschätzen.

Wir können nur versuchen zu verstehen, wie sich das wirkliche Leben unterscheidet, wie sich das eine Ende des einen Jahrhunderts von dem eines anderen unterscheidet. Und vielleicht gelingt uns das besser, wenn wir uns zu erinnern suchen, was es vor hundert Jahren noch nicht gab.

Oder noch besser vielleicht: wen es nicht gab.

Picasso war noch nicht wirklich da, und auch nicht Proust, Joyce, Strawinsky oder Kandinsky, nicht Schönberg noch die Gründer des Bauhaus, weder Einstein noch Kafka, nicht Orwell und nicht Chaplin, auch nicht die Filmmagnaten Hollywoods oder Mussolini oder Stalin oder Hitler.

Im Jahr 1900 lebte man in einer Welt ohne diese Menschen und ohne ihre Beiträge zur menschlichen Phantasie. Ich glaube nicht, daß man sich diese Menschen auch nur hätte vorstellen können.

Die Menschen von 1900 lebten natürlich auch in einer Welt ohne zwei Weltkriege, ohne totalitäre Massenbewegungen, ohne fremdenfeindlichen Nationalismus, ohne Gulag und Auschwitz, ohne den Blick des Dr. Pannwitz, des Leiters der Apotheke von Auschwitz, der über seinen Schreibtisch hinweg einen seiner Sklavenarbeiter inspiziert, einen jungen italienischen Juden, als sei dies keine Begegnung zwischen zwei Menschen, sondern zwischen zwei verschiedenen biologischen Gattungen (Primo Levi, Ist das ein Mensch?).

Natürlich lebten die Menschen von 1900 auch in einer Welt ohne Relativitätstheorie, ohne Quantenmechanik, ohne Autos, Flugzeuge, Atombomben, Genetik, DNA, Klone, Personalcomputer, Internet, ohne die Informationsgesellschaft, homosexuelle Ehen, legale Abtreibung, arbeitende Frauen, Demokratie, Zerfall der Familie, Wohlfahrtsstaaten.

Was von all dem könnte also als Erbschaft unseres Jahrhunderts gelten?

Und kann man davon überhaupt sprechen? Ein Jahrhundert, hundert Jahre, ist schließlich eine ziemlich willkürliche Art der Zeitmessung - wenn auch eine verhältnismäßig harmlose. Jahrtausende sind erheblich schlimmer. Jahrtausend ist ein starkes und verführerisches, ein schlicht gefährliches Wort. Jahrtausend will die Geschichte mit Finalität erfüllen, mit letzter Bedeutung, mit Erlösung, mit messianischen Verheißungen. Es war kein Zufall, daß Hitlers Reich ein tausendjähriges sein sollte. Und jeder, der vom kommenden Jahrtausend spricht, ist entweder unwissend, zynisch oder gefährlich.

Aber auch wenn ein bloßes Jahrhundert, so mechanisch und willkürlich abgegrenzt auch immer, eher in unserer Reichweite zu liegen scheint und weniger mit verborgenen Botschaften belastet, so ist es doch nicht immer der natürlichste Zeitraum, um ein historisches Erbe zu definieren.

1989, als die Berliner Mauer fiel und das sowjetische Imperium vor dem Zusammenbruch stand, schrieb ich einen Artikel, in dem ich die Ansicht vertrat, dies sei das Ende - aber nicht des zwanzigsten Jahrhunderts, sondern eines sehr langen neunzehnten Jahrhunderts, eines Doppeljahrhunderts, das 1789 mit der französischen Revolution und den Träumen von einer neuen, weltlichen, rationalen, aufgeklärten, immer perfekteren Weltordnung begonnen hatte. Mit der Vorstellung, daß die Geschichte einen Sinn habe, einen gegebenen Kurs des Fortschritts - und ein endliches Ziel. 1789 war das Jahr, in dem statt Gott der Mensch selbst zum großen Schöpfer wurde. Der Mensch selbst würde die Welt und das menschliche Element in ihr vervollkommnen. Einer deutlich westlichen oder eher jüdisch-christlichen religiösen messianischen Idee von Erfüllung und Erlösung folgte ein weltlicherer Glaube, der im Grunde das gleiche versprach, wenn auch dieses Mal mittels des rein rationalen und wissenschaftlichen Umgangs mit Mensch und Natur.

Natürlich gab es Kant, der uns den vernünftigen Menschen versprach, Rousseau war da und versprach uns die volonté générale, den Willen der Allgemeinheit, Hegel versprach uns den Sinn der Geschichte. Und bald darauf kam Karl Marx und versprach uns den wissenschaftlichen Schlüssel zum Ablauf der Geschichte. Nur menschliche Ignoranz trennte noch die Erde vom Himmel. Die Zukunft war klar und hell - und unausweichlich bereitete Europa den Boden für Revolution und Erlösung.

Diese Menschen von 1800 waren alle auch 1900 da. Physisch tot natürlich, aber geistig sehr lebendig. Der Beginn unseres Jahrhunderts war erfüllt von Erwartungen und Selbstvertrauen. Einen stolzen Turm hat es die Historikerin Barbara Tuchman genannt, oder vielleicht war es eher eine Bombe vor der Zündung. Es war kein goldenes Zeitalter, wie es manchen Leuten in der Rückschau erschien, keine belle epoque, es steckte voller Spannungen und Konflikte und sozialem Elend, aber es war auch eine Zeit, in der alle Kurven der menschlichen Entwicklung und Tätigkeit scharf nach oben wiesen, in der radikale Veränderung auf der Tagesordnung stand, in der Maschinen und Industrien die menschliche Produktion und Produktivität schnell vervielfältigten, in dem enorme soziale Energien akkumuliert wurden, in dem das objektive Wesen der Dinge als unablässige Bewegung nach vorne erschien, als Fortschritt, wenn man so will, als Wille zur Macht.

Auch Nietzsche war natürlich da, buchstäblich auf der Schwelle zu unserem Jahrhundert. Er starb genau 1900 - und mit ihm hätte das neunzehnte Jahrhundert eigentlich enden können, weil er im Unterschied zu so vielen anderen wahrnahm, daß das Ende gekommen war, daß das kollektive messianische Unternehmen menschlicher und sozialer Vervollkommnung nur in die moralische und menschliche Katastrophe führen konnte. Er verkündete nicht nur, Gott sei tot, sondern bemerkte auch, daß der, wie er es nannte, "christlich-kirchliche Druck" in Europa "eine prachtvolle Spannung des Geistes" geschaffen hatte, "wie sie auf Erden noch nicht da war: mit einem so gespannten Bogen kann man nunmehr nach den fernsten Zielen schießen", schrieb Nietzsche 1886 in der Vorrede zu "Jenseits von Gut und Böse".

Er lebte nicht lange genug, um wirklich so weit zu sehen. Er selbst hatte gehofft, diese Spannung werde die geistige Befreiung der Individuen befördern, jenen freien Geist schaffen, auf den er all seine Hoffnungen setzte. "Wir guten Europäer", schrieb er , "... wir haben sie noch, die ganze Not des Geistes und die ganze Spannung seines Bogens! Und vielleicht auch den Pfeil, die Aufgabe, wer weiß? das Ziel..."

Ja, hätten wir Nietzsche richtig gelesen und verstanden, hätten "wir guten Europäer" vielleicht die Gefahren der Zukunft erkannt, die zerstörerische Kraft des Jahrtausendbogens und des Pfeils, vielleicht auch das Dunkle in seinen Zielen.

Statt dessen lösten die angesammelten Spannungen und Energien den Krieg von 1914 aus. Manche vertreten die Ansicht, dieser Krieg bezeichne den wahren Anfang unseres Jahrhunderts, weil er größer und zerstörerischer und irrationaler war als alle Kriege zuvor, weil er so viel zerstörte und so viele tötete, weil er die letzten Überreste von Ritterlichkeit beiseite wischte, weil er so viele Werte und Überzeugungen verhöhnte.

Hannah Arendt sieht die Tage vor und nach dem Ausbruch dieses Krieges voneinander getrennt, "nicht wie das Ende einer alten und der Anfang einer neuen Zeit, sondern wie der Tag vor und der Tag nach einer Explosion." Es war ein Krieg, schreibt sie, der menschlichen Haß in neuer Größenordnung auslöste und den trügerisch ruhigen Jahren der Zwanziger "die schwüle und unheilvolle, diffuse Irritabilität einer Strindbergschen Familientragödie verlieh. Denn der Haß konnte sich auf niemanden und nichts wirklich konzentrieren; er fand niemanden vor, den er verantwortlich machen konnte - nicht die Regierung und nicht die Bourgeoisie und nicht die jeweiligen Mächte des Auslandes... Denn hier war jeder gegen jeden, und vor allem gegen seinen Nachbarn - die Slowaken gegen die Tschechen, die Kroaten gegen die Serben, die Ukrainer gegen die Polen..."

Wenn dies heute ein bißchen vertraut klingt, weil auch wir zu erleben scheinen, was Arendt "als allgemeine Auflösung des politischen Lebens" beschrieb, als fortwährende Delegitimierung politischer Institutionen und Systeme, als verschwommenes Ressentiment, nicht Haß vielleicht, jedenfalls noch nicht, ohne klaren Brennpunkt, zu plötzlichen Richtungsänderungen und wechselnden Stimmungen neigend. Ich möchte den Vergleich nicht zu weit treiben. Die Dinge haben sich geändert, wichtige kollektive Erfahrungen wurden gemacht, die Geschichte wiederholt sich nicht, aber wenn wir die Erbschaft dieses Jahrhunderts bewerten wollen, müssen wir auch anmerken, daß Spannungen, die wir für überwunden hielten, noch immer vorhanden sind oder allzu leicht wieder entstehen können.

Sind wir also, wie ich es bin, davon überzeugt, daß der Erste Weltkrieg das Jahrtausendprojekt des Europas des neunzehnten Jahrhunderts noch nicht beendete, sondern es nur radikalisierte, entmenschlichte, mit immer scheußlicheren Waffen ausrüstete, es zu ein paar logischen und schrecklichen Folgerungen trieb - überzeugt, daß die faschistischen und kommunistischen Massenbewegungen dieses Jahrhunderts auch Nachkommen von Rousseau und Marx waren wie von Lenin und Hitler, daß sowohl der Zweite Weltkrieg wie auch der Kalte Krieg gegen radikale und noch immer lebendige Jahrtausendkräfte in der westlichen Gesellschaft zu Felde zogen, dann müssen wir zu dem Schluß kommen, daß das europäische Jahrhundert, das jetzt seinem Ende zugeht, ein wirklich sehr langes Jahrhundert war.

Andererseits können wir auch behaupten, das Ende selbst sei ein langer Prozeß gewesen, mit vielen augenscheinlichen Enden schon auf dem Weg dorthin. Intellektuell und geistig war es vielleicht schon mit Nietzsche zu Ende gegangen, mit Joyce, mit Kandinsky, mit Kafka, mit Strawinsky und Schönberg, mit Musil und Broch. Mit der, wie es der spanische Philosoph Ortega y Gasset nannte, Entmenschlichung der Kunst (la deshumanizacion del Arte), mit der Erkenntnis, daß die Kohärenz und Unzweideutigkeit des neunzehnten Jahrhunderts vorüber waren, und daß eine neue Welt der Inkohärenz und Zweideutigkeit, eine Welt ohne gegebenen Sinn und Zweck, eine Welt ohne vorgegebene moralische Autorität ins Leben getreten war - eine Welt, die nach einem völlig neuen künstlerischen und literarischen Ausdruck rief.

Es war eine Welt, die sich in diesem ersten scheußlichen europäischen Krieg und seiner Folgezeit offensichtlich manifestierte, einer Welt, die Hermann Broch in seiner Romantrilogie Die Schlafwandler auf beängstigende Weise heraufbeschworen hat, Romanen über ein Europa, das sich an einem Tag auf der Schwelle zu menschlicher Vollkommenheit befindet und einen Tag später als Monstrum entpuppt. Er fragt im abschließenden dritten Teil: "Hat dieses Leben noch Wirklichkeit? Hat diese hypertrophische Wirklichkeit noch Leben? Die pathetische Geste einer gigantischen Todesbereitschaft endet in einem Achselzucken, - sie wissen nicht, warum sie sterben; wirklichkeitslos fallen sie ins Leere, dennoch umgeben und getötet von einer Wirklichkeit, die die ihre ist, da sie deren Kausalität begreifen."

Der Rationalismus des neunzehnten Jahrhunderts hatte eine externe Logik schaffen wollen, eine, wie Broch es nennt, "Sachlichkeit" jenseits menschlicher Werte und Wertsysteme. Die innere Rationalität der Menschheit, ihr moralischer Schwung, war systematisch reduziert worden auf die Effekte der materialistischen, wertfreien Logik. Brochs "Sachlichkeit" ist die Befreiung der Logik von allen Wertsystemen. Wenn diese "Sachlichkeit" sich in der augenscheinlichen Irrationalität eines Weltkrieges verliert, wenn die Abstraktionen sich in erschreckende Monster verwandeln, bleiben die Menschen nackter denn je zurück.

Dieser neue deformierte Maschinenmensch wird dargestellt in der Person eines moralisch Abtrünnigen, Huguenau, der sich jede Logik zu eigen machen kann, wenn sie nur dem Augenblick angemessen erscheint, ein Menschenwesen, dem ein Mord, eine Vergewaltigung oder ein Mundraub ebenso willkürlich oder notwendig erscheinen wie jede andere Handlung im Leben. Der betrogene und schließlich vernichtete Zeitungsherausgeber, Herr Esch, wirft sich dem religiösen Fanatismus in die Arme, auf der verzweifelten Suche nach einigen Werten, an die er sich klammern könnte. Sein angeeignetes Wertesystem ist jedoch nur eines von unzähligen, miteinander unvereinbaren Wertesystemen, die sämtlich den Verfall aller Werte beschleunigen; da ist das ökonomische Wertesystem des "Geschäft ist Geschäft", es gibt die Kunst mit ihrem l´art pour l´art, die Architektur mit ihrem Funktionalismus, es gibt militärische, technologische und sportliche Wertesysteme - alle (wie Broch schreibt) "unbehindert" in ihrer Autonomie, ein jedes entschlossen, mit radikaler Gründlichkeit die letzten Folgerungen seiner Logik durchzusetzen und eigene Rekorde aufzustellen. Und wenn in diesem Konflikt der Systeme, die ein gefährdetes Gleichgewicht bewahren, eines die Vorherrschaft erringen und alle übrigen stürzen sollte, wie es das militärische System im Kriege vermag, oder wie es das Wirtschaftssystem jetzt tut, ein System, dem sogar der Krieg untergeordnet wird - dann wehe den anderen!

Aber wie wir wissen, war das noch nicht das Ende. Neu erschaffene, neu belebte und radikalisierte Gewißheiten sollten bald an die Stelle der zerschlagenen Welt von 1914 treten. Neue Visionen von Sinn und Zusammenhalt, neue Träume von vollkommenen Gesellschaften, biologisch oder sozial gereinigt und geläutert, wurden geträumt und verwirklicht - mit den bekannten Folgen.

Manche Künstler und Schriftsteller wurden zu Herolden, manchmal sogar zu Schöpfern dieser schönen neuen Welt. Andere wurden zu ihren Widerstandskämpfern, Verteidiger dessen, was sie für eine Welt ewiger menschlicher Werte hielten, nicht unbedingt einer vollkommenen Welt, aber doch einer Welt, die es wert war zu verteidigen. Die Verteidigung einer Halbwahrheit gegen eine offene Lüge, wie Arthur Koestler später schreiben sollte. Einige Zeit noch herrschte die Überzeugung, der Totalitarismus sei eine Verirrung, der westlichen Tradition zutiefst fremd, eine außergewöhnliche Unterbrechung des Fortschritts, ein schockierendes Überbleibsel barbarischer Ignoranz inmitten menschlicher Aufklärung und wissenschaftlicher Rationalität. Viele bewahrten diesen Glauben sogar inmitten totaler Finsternis.

1942 wurde der Komponist Viktor Ullmann aus Prag in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Er war zu diesem Zeitpunkt 44 Jahre alt und glaubte fest daran, daß Schiller Hitler besiegen würde, daß die künstlerische Form den Alltag überwinden, die Schöpfung echter ästhetischer Werte über die Proklamation von Gewalt und Tod triumphieren würde.

Mit Plato befürchtete er (in einem Essay aus dem Jahre 1937), daß eine zunehmende Gesetzlosigkeit in der Musik eine zunehmende Gesetzlosigkeit in der Gesellschaft insgesamt ankündigte, und der Komponist habe daher die Aufgabe, nach einer neuen Ordnung in der Musik zu suchen. Mit der richtigen Art Musik könne dem Barbarentum Einhalt geboten werden. Er glaubte auch noch, als er es schon hätte besser wissen müssen, als im Herbst 1944 die häufigen Transporte nach Auschwitz Orchester, Chöre und Kammermusikensembles auseinanderrissen, als geprobte Opern abgesetzt werden mußten, halb beendete Vorlesungsreihen ihr Ende fanden, Jazzbands und Kabaretts zum Schweigen gebracht wurden.

Am 16. Oktober 1944 - er hatte soeben seine siebte Klaviersonate seinen Kindern gewidmet und sich die Aufführungsrechte auf Lebenszeit vorbehalten - wurde Ullmann in einen Zug gepfercht und zusammen mit anderen prominenten Musikern, Künstlern und Komponisten nach Auschwitz transportiert, wo er am 18. Oktober in der Gaskammer ermordet wurde.

War also Auschwitz wirklich nur eine Verirrung? Die Mörder und Opfer lauschten der gleichen Musik und genossen sie; sahen die gleichen Stücke, lasen die gleichen Bücher, fühlten sich weitgehend den gleichen kulturellen Werten verpflichtet. Und wie wir heute wissen, wurde der Holocaust weitgehend von ganz gewöhnlichen Menschen durchgeführt, wie Christopher Browning sie in seinem Buch über das Polizeibataillon 101 genannt hat. Und er wurde natürlich organisiert mit den modernsten Mitteln und den fortgeschrittensten Errungenschaften westlicher Wissenschaft und Bürokratie. Und sein Ziel, das wollen wir nicht vergessen, war jene endgültige Gesellschaft, die letzte Lösung, die Endlösung, die, so grotesk auch immer, den messianischen Kern westlicher Tradition bildet. Oder wie es Zygmunt Bauman in seiner Untersuchung "Die Moderne und der Holocaust" vorsichtig formuliert hat: "Der Holocaust war keine Antithese der modernen Zivilisation und all dessen, wofür sie steht. Wir fürchten (auch wenn wir es nicht zugeben wollen), daß der Holocaust nur eine weitere Facette der gleichen modernen Gesellschaft enthüllt haben könnte, deren anderes, vertrauteres Gesicht wir so sehr bewundern."

Statt Auschwitz als Verirrung zu begreifen, wenn auch als einzigartiges Ereignis in der menschlichen Geschichte, möchte Bauman uns seine eindeutig modernen Wurzeln und Merkmale nahebringen, damit wir es als etwas verstehen, das - in dieser Form - nur in einer modernen Gesellschaft ablaufen konnte. Nicht daß Auschwitz sich wiederholen würde, aber wir wissen jetzt, und erleben es weiterhin, daß "gewöhnliche Menschen", so aufgeklärt und gebildet sie sein mögen, unter den besonderen Bedingungen der modernen Gesellschaft und unter dem Einfluß besonderer westlicher Ideale dazu gebracht werden können, scheußliche Verbrechen zu begehen.

Wie also sehen diese Bedingungen unserer Gesellschaft aus? Und gelten sie immer noch?

Eine mögliche Antwort auf diese Fragen finden wir vielleicht bei den Schriftstellern der Zwischenkriegsperiode: ob sie versuchten, uns vertraute Töne zu verstehen und zu beschreiben. Können wir uns zum Beispiel in Hermann Brochs zerschlagener Welt der Sachlichkeit wiedererkennen, in der das Wertesystem des "Geschäft ist Geschäft" alle anderen Werte überwuchert? Oder wahrhaft menschliche Moralprobleme und Entscheidungen in Fragen technisch-wissenschaftlicher Kompetenz umgewandelt wurden? In der menschliche Urteile durch Sachlichkeit ersetzt wurden? In der alle dem System die Schuld geben, aber nur wenige die Verantwortung übernehmen können?

Oder wie nehmen wir heute wahr, was der amerikanische Essayist Walter Lippmann 1929 schrieb: "Der moderne Mensch, der nicht mehr glaubt, aber noch gläubig ist, hängt so zwischen Himmel und Erde und kommt nirgends zur Ruhe. Er empfindet sich nicht als Mitwirkender an einem großen und dramatischen Geschick, aber er ist den massiven Kräften unserer Zivilisation unterworfen, muß sich ihrer Geschwindigkeit anpassen, ihrer Routine ausgeliefert, verstrickt in ihre Konflikte... Ereignisse sind da, und sie überwältigen ihn. Aber sie können ihn nicht überzeugen, daß sie die Würde besitzen, die all dem innewohnt, was notwendig ist und in der Natur der Dinge liegt."

Es gab eine Zeit - inzwischen wirkt sie wie ein kurzes Zwischenspiel in einem langen Jahrhundert - , als dies vielleicht noch nicht die zutreffende Beschreibung der westlichen Stimmung war. Als das westliche Projekt wieder Sinn und Schwung erhielt, als erneut die Barbaren vor den Toren standen, als die Unterscheidung zwischen gut und böse wieder klar zutage lag, als die Halbwahrheit Koestlers in heroischem Gegensatz zu den offenen Lügen des Nazismus und Stalinismus stand, als der Westen wieder einmal einen Kampf gewinnen und eine Sache vollenden zu müssen schien. Als die moralischen Gewißheiten und das Vertrauen der spätviktorianischen Ära vor 1914 auf wunderbare Weise wiederbelebt wurden - und personifiziert durch politische Führer wie Churchill, de Gaulle, Schumann, Adenauer, Kennedy, Helmut Schmidt und - würde ich behaupten - in letzter Zeit auch Helmut Kohl.

Eine Periode und eine Zeit, die vermutlich 1989 ihr Ende fand, als die Barbaren plötzlich besiegt waren, als die europäischen Mauern fielen und man den Endsieg des Westens verkündete - ja sogar das Ende der Geschichte (Francis Fukuyama).

Und auf gewisse Weise hatte hier wirklich etwas Wichtiges sein Ende gefunden, Ein sehr langes Jahrhundert vielleicht - oder doch zumindest die letzten Überbleibsel jenes westlichen Selbstvertrauens, das so lange die Schatten und die Spannungen und jene selbstzerstörerischen Tendenzen übertüncht hatte, die einstmals einer früheren Generation von Schriftstellern und Künstlern als offensichtlich erschienen waren. Nach einer kurzen Zeit der Erleichterung und triumphalistischer Hybris, fortgeführt durch neo-liberale Ideologen und Ökonomen, wurden die Wunden im messianischen Unternehmen der Aufklärung wieder sichtbar.

Wieder konnten wir erschauern, wenn wir Broch lasen. Wieder konnten wir schmerzlich feststellen, wie sich menschliche Werte von behaupteten technokratischen und ökonomischen Notwendigkeiten lösten, individuelle Erfahrung vom Lauf der Dinge, Handlungen von Konsequenzen, Rechte von Verantwortung.

Ich glaube: Was da zu einem Ende gekommen ist, oder vielmehr zu einem Ende kommen sollte, auch wenn wir gar nicht so sicher sein können, daß das auch wirklich so kommen wird - zu einem Ende gekommen ist der Marsch der Geschichte. Die Vorstellung, daß Geschichte oder vielmehr westliche Geschichte einen Anfang habe, einen Sinn und schließlich auch ein Ende. Daß die Menschheit sich auf einer Art Reise zur Vollkommenheit befinde. Die Zweideutigkeiten und Ungewißheiten und Paradoxe, die Broch oder Kafka oder selbst ein amerikanischer Intellektueller wie Lippmann als augenscheinlich wahrnahm, sind wieder da - mit verdoppelter Wucht. Und anscheinend gibt es keine Fluchtwege mehr. Kein neuer großer Zusammenhang in Sicht. Keine neue Übergeschichte. Kein neues 1789 oder 1917.

Zygmunt Bauman hat in einer Reihe von Büchern eine moderne westliche Welt erforscht, die sich endlich ihrer eigenen brüchigen Fundamente bewußt geworden ist, der dunkleren Echos ihrer eigenen Rhetorik, eine Welt, in der jede kollektive moralische Gewißheit zusammengebrochen ist und ersetzt wurde durch die Selbstzweifel, soziale Zersplitterung und moralische Zweideutigkeit der Postmoderne. Eine Welt, in der wir letzten Endes für unsere eigene Verantwortung die Verantwortung tragen müssen.

Jetzt verstehen wir besser Nietzsches Spott über seine guten Europäer - ihr gutes Gewissen, "jener ehrwürdige langschwänzige Begriffs-Zopf, den sich unsere Großväter hinter ihren Kopf, oft auch hinter ihren Verstand hängten! (...) wir letzten Europäer mit gutem Gewissen: auch wir noch tragen ihren Zopf. - Ach! Wenn Ihr wüßtet, wie es bald, so bald schon - anders kommt".

Wir können uns natürlich fragen, warum das neunzehnte Jahrhundert nicht mit Nietzsche zu Ende ging, warum wir uns wieder einmal den Zopf hinter den Kopf hängen konnten - und hinter unseren Verstand. Aber mit dieser Frage unterschätzen wir die verführerische Kraft der westlichen Idee - jene Idee, daß der Mensch hier auf Erden sei mit einem großen Ziel und einer großen Aufgabe, daß es ein großes Ende gebe für unser materielles und geistiges Leid. Wann immer dann unsere materiellen und geistigen Leiden groß genug waren und unsere existentielle Einsamkeit unerträglich schien, bestand Nachfrage nach immer neuen Zauberern, die uns an jedem Schnittpunkt der Geschichte zu erzählen wußten, was wir so verzweifelt zu hören begehrten. Die uns eine neue Illusion lieferten, einen neuen großen Sinn beschworen.

Ist das wirklich zu Ende?

Ja, ich glaube schon. Bereits diese letzten Jahre des Jahrhunderts bergen einen geisterhaften Anklang an ein Gefühl des déjà-vu, jetzt, da so viele Menschen nach einer neuen Gewißheit gieren, nach einer neuen Aufgabe für unsere Zivilisation, nach einem neuen Feind, gegen den sich mobilisieren ließe, sei er klein oder groß, ein weiterer Zusammenstoß der Zivilisationen vielleicht - welche Gewißheiten wir auch finden, eines ist deutlich: sie werden alle einer kleineren Größenordnung angehören. Wir werden klaustrophobische ethnische oder nationale Gewißheiten haben, regionale und lokale Gewißheiten, die Gewißheiten von Sekten und Subkulturen, die kurzlebigen Gewißheiten der Medien. Aber wir werden wahrscheinlich entdecken, daß jede Gewißheit, die mehr anstrebt, der Auflösung geweiht ist. Die westliche Nation, der westliche Nationalstaat, der fast zwei Jahrhunderte lang den kollektiven Sinn und Zweck organisieren und artikulieren konnte, ihm Richtung und Ziel geben konnte, hohen Sinn und große Gewißheit, der westliche Nationalstaat wird all das nicht mehr können - außer in ein paar übrig gebliebenen Fällen nationaler Klaustrophobie. Seine moralische und politische Autorität schwindet schnell dahin.

Die Europäer des nächsten Jahrhunderts werden ein einsames Völkchen sein und vergeblich nach jener moralischen Gewißheit Ausschau halten, nach jenem menschlichen Selbstvertrauen, das ihnen das westliche Projekt fast zwei Jahrhunderte lang bot. Unsere Fragen werden sicherlich die gleichen bleiben wie 1789 oder 1848 oder 1945, aber eine ganze Kategorie von Antworten wird ihre Autorität und Geltung verloren haben. Wir können uns als Lösung für menschliche Konflikte und Leiden kein einzelnes Projekt mehr vorstellen. Wir werden zunehmend die Tatsache akzeptieren und mit ihr umgehen müssen, daß Menschen in verschiedene Richtungen streben, unterschiedlichen Idealen anhängen, verschiedene Werte hochschätzen, sich verschiedenen Autoritäten unterwerfen, verschiedene Musik genießen, verschiedene Bücher und verschiedene Filme.

Wir werden auch erkennen müssen, daß letzten Endes alle menschlichen Werte in Konflikt geraten, daß das menschliche Leben eine Sache ständiger Entscheidungen ist, denn nicht alle guten Werte sind miteinander vereinbar. Viele sind es nicht. Freiheit reibt sich mit Gleichheit. Stabilität mit Veränderung. Wahre moralische Entscheidung ist kein Brezelbacken oder das Kochen nach einem vorgeschriebenen Rezept - viel häufiger bringt sie echte Konflikte und wahrhafte Agonie mit sich. Die alte westliche Vorstellung vom richtigen Weg aller guten Werte und dem falschen Weg aller Übel verliert endlich an Überzeugungskraft.

Die Erbschaft dieses sehr langen Jahrhunderts wäre also: die Aufgabe, ohne eine solche Idee zu leben. Der Wertpluralismus von Isaiah Berlin, die unausweichliche Tatsache, daß es keinen möglichen Zusammenhang der Werte gibt, daß menschliche Ziele vielfältig sind, unteschiedlich und konfligierend, wird ein definierendes Merkmal der kommenden Gesellschaft sein. Wenn der ewige Konflikt menschlicher Werte eine tiefere Wahrheit bietet als die Verheißung einer immer vollkommeneren und harmonisierten Gesellschaft, dann wird dies eine radikale Änderung in der Art erfordern, wie wir unsere heutigen europäischen Gesellschaften zu organisieren versuchen; schließlich gründeten sich die meisten ursprünglich auf das Konzept einer homogenen Nation, die sich auf den Weg zu wachsender Einheitlichkeit des Zwecks und Harmonie der Werte machte. Mit seiner charakteristisch leisen Stimme bemerkte Berlin selbst, in der Realität könnten wir bestenfalls hoffen auf ein "gefährdetes Gleichgewicht", in endlosem Bemühen, "verzweifelte und unerträgliche Entscheidungen" zu vermeiden.

Wie lautet denn nun die Erbschaft des Jahrhunderts? Ich möchte nur ein Wort nennen: Verwirrung.

Schumpeter hätte es vielleicht fruchtbare Verwirrung genannt. Nietzsche vielleicht auch. Aber ich kenne sehr viele Menschen, die Verwirrung als etwas Zerstörerisches begreifen. Jedenfalls ist Verwirrung immer unbequem, sie juckt, sie drängt und treibt. Sie ist wie das Ungleichgewicht in der Natur. Sie strebt nach Stabilität, nach einem modus vivendi, nach Gleichgewicht, einem Ruhezustand. Verwirrung sucht Gewißheit.

Der Unterschied zwischen diesem Jahrhundert, wie immer man es definieren will, und dem kommenden lautet, daß uns keine Gewißheiten zur Verfügung stehen. Verwirrung findet keine schnelle Lösung mehr. In diesem zu Ende gehenden Jahrhundert gab es die Aufgeklärten und die noch Verwirrten, die Elite und ihre noch nicht gebildeten Massen. Jetzt sind die Aufgeklärten die Verwirrten. Oder wenn man so will, dann sind wir alle verwirrt, und der Unterschied liegt nur darin, daß die einen das wissen und die anderen nicht. Gewißheit, eine kurzlebige und aggressive Gewißheit, ist heute nur noch bei denen denkbar, die so verwirrt sind, daß sie gar nicht wissen, daß sie verwirrt sind.

Es gibt natürlich einen völlig normalen Geisteszustand zwischen Verwirrung und Gewißheit, zwischen Verzweiflung und Seligkeit, und das ist - Ungewißheit, Ambivalenz, Zweideutigkeit. Was ich für den eigentlichen menschlichen Zustand halte, jedenfalls eher als die langlebige westliche Fiktion eines menschlichen Marsches zu Erfüllung und Gewißheit.

"Der Wunsch, diese konstitutive Zweideutigkeit abzuschaffen", schreibt der deutsche Philosoph Hans Jonas, "ist der Wunsch, den Menschen in seiner unergründlichen Freiheit abzuschaffen."

Die Frage bleibt also bestehen: werden wir anständige Gesellschaften schaffen können, ohne die Fiktion einer großen menschlichen Aufgabe, ohne einen eindeutigen Weg zu Sicherheit und dem strahlenden Ende der Erfüllung? Werden wir sie auf den viel schwierigeren Idealen menschlicher Vielfalt aufbauen können, von Konflikt und Veränderung?

Nun, diese Antwort bleibt letztlich unseren Erben überlassen. Aber ich glaube, wenn es ihnen gelingen soll, dann werden sie ein Instrument aus diesem alten, müden, langen Jahrhundert bewahren müssen. Das einzige Instrument, das uns erlaubt, tief zu denken, gründlich zu reflektieren, sorgfältig zuzuhören, mit Würde zu diskutieren, mit Sensibilität zu entdecken, mit Kopf und Herz zu verstehen - das geschriebene Wort.

Es ist richtig, daß uns das geschriebene Wort zu törichten Dingen verleitet hat und zu eitlen Träumen, aber es stimmt auch, daß das gleiche geschriebene Wort uns die Möglichkeit gab, die Torheiten unserer Handlungen und die Eitelkeiten unserer Träume zu erkennen.

Ich glaube nicht, daß eine Gesellschaft, die sich zunehmend mittels kurzlebiger und geschickt manipulierter Bilder und Vorstellungen interpretiert und versteht, für jene Art nachdenklicher menschlicher Kommunikation sorgen kann, die ich in dieser neuen Situation für notwendig halte.

Ehrlich zu schreiben, ernsthaft zu lesen und bewußt die Schärfe und den Reichtum der geschriebenen Sprache zu bewahren, muß dann nicht nur als Akt menschlicher Schöpfung gelten - sondern auch als Akt der Verteidigung. Nicht um alte Gewißheiten zu verteidigen, sondern in Verteidigung gerade der Möglichkeit, mit der Ungewißheit zu leben - ohne unsere menschliche Würde zu verlieren.

Auch das wäre dann die Erbschaft unseres Jahrhunderts.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.