LI 78, Herbst 2007
Wieder im Ghetto
Israel und Palästina - Zerstörte Träume von Unabhängigkeit und FriedenElementardaten
Genre: Erinnerung, Essay
Übersetzung: Aus dem Schwedischen von Jörg Scherzer
Textauszug
(...) Das neuerrichtete Terminal am Flughafen Ben Gurion ist hell und luftig, und die Wegstrecke durch die leicht abschüssigen und großzügig verglasten Arkaden ist enorm. Wie leicht läßt man sich einlullen von einem Gefühl der Offenheit und Normalität, zumindest bis man die Paß- und Zollkontrolle erreicht, die auch nicht sehr viel schärfer ist als irgendwo sonst. Potentielle Terroristen sind wir mittlerweile alle – und überall. In dieser Hinsicht ist Israel zur Welt geworden – und die Welt zu Israel.
Auf dem Weg aus dem Flughafenbereich wird Israel unverkennbar wieder zu Israel. Oder vielleicht verhält es sich vielmehr so, daß ich auf diesem Weg erkenne, wie symbolisch der Flughafenbereich für jenes Land ist, zu dem Israel geworden ist. Es ist ein großes Gebiet, ungefähr von der Ausdehnung einer kleinen Stadt. Man muß lange auf gut asphaltierten, palmengesäumten und teilweise schlecht ausgeschilderten Boulevards und Autobahnen fahren, bis man die Grenze des Flughafens erreicht, die mindestens so gut befestigt und überwacht wird wie die Grenze zwischen zwei normal voneinander abgegrenzten Ländern. Innerhalb des Zauns gibt es nicht nur Landebahnen, Terminals, Hotels, Parkplätze, Unterhaltungsmöglichkeiten und anderes, das man auf einem Flughafen erwartet, sondern auch Felder und Orangenhaine und weiteres, das man eigentlich außerhalb erwartet.
Ein gut gerüstetes Miniisrael, denke ich.
Eine kleine Festung innerhalb der großen.
Eine letzte Zuflucht vor der letzten Belagerung.
Nicht zum ersten Mal denke ich an Massada, wenn ich nach Israel komme. Und nicht nur, weil ich einmal in dem Glauben erzogen worden bin, der Staat Israel sei das Ende einer zweitausendjährigen Parenthese, deren Beginn Massada hieß. Sondern auch, weil mich die Verbindung zwischen einem jüdischen Massenselbstmord in einer belagerten Bergfestung im Jahre 73 n. Chr. und dem Überlebenskampf des Staates Israel lange erschreckt hat. Der Vergleich zwischen der Situation Israels und der von Massada. Die Vorstellung von Israel als ewiger Festung unter ewiger Belagerung. Das rituelle Gelöbnis bei der Vereidigung junger Soldaten, daß Massada niemals wieder fallen darf. Das nationale Mantra ein brira, „Keine Wahl“. Keine Wahl zwischen Festung und Niederlage. Zwischen Überleben und Selbstmord (…)
Falls jemand fragt, warum Israel seine Übermacht dazu benutzt, etwas zu tun, was nach Ansicht aller die Palästinenser verrückt machen wird, so lautet meine Antwort heute, daß auch Israel eine Gesellschaft von Wahnsinnigen ist. Auf der „Innenseite“ der Mauer (oder der Barriere oder des Zauns), geschützt vom mächtigsten Militärapparat dieser Region, unter Obhut der größten Militärmacht der Welt und gesichert durch die stärkste Volkswirtschaft dieser Gegend, leben Menschen, die davon überzeugt sind, daß ihnen dies alles jeden Augenblick abgenommen werden könne und daß das kleinste Zeichen militärischer Schwäche ein erster Schritt in Richtung Auschwitz sei.
Vielleicht wenden manche ein, es handele sich hier um eine Überzeugung, die sich auf Erfahrung gründet, und nicht um Wahnsinn, und die Erklärung für den Verfolgungswahn der Israelis liege darin, daß sie tatsächlich verfolgt werden. Daß die Palästinenser mit freundlicher Unterstützung der Araber und der Muslime und der Judenhasser der ganzen Welt nur auf ihre Chance warten, den jüdischen Staat zu vernichten. Daß die Juden ewige Opfer ewiger Feinde sind und bleiben und daß die Palästinenser/ die Araber/ die Muslime die Nazis unserer Zeit seien (wofür der auschwitzleugnende iranische Präsident Ahmadinedschad zweifellos ein anschauliches Beispiel ist). Daß die Palästinenser sich niemals mit dem Staat Israel abfinden werden und daß der Friede mit den Palästinensern eine Illusion sei. Daß die einzige Sprache, die die Feinde der Juden verstehen, die der militärischen Überlegenheit ist. Daß dem Wahnsinn Israels eine Logik zugrunde liege.
Häufig fehlt in solchen „rationalen“ Erklärungen der gestiegene Anteil von bewußter Manipulation und Ausbeutung jüdischer Phobien in der israelischen Machtpolitik. Niemals zuvor spielte die Bedrohung durch den Antisemitismus eine so bedenkliche Rolle in der offiziellen Rhetorik und in der Politik Israels. Niemals zuvor diente die Bedrohung einer neuen Vernichtung zur Formulierung einer offiziellen israelischen Verteidigungsdoktrin. Im Sommer 2004 forderte der damalige israelische Ministerpräsident Ariel Scharon die französischen Juden zur Flucht nach Israel auf. Das Europa von heute erinnere an das Europa der dreißiger Jahre, bei der zunehmenden Kritik an der Politik und Ideologie Israels handele es sich um einen „neuen Antisemitismus“. Was vor dem „Krieg gegen den Terror“ als ein mit politischen Mitteln nicht zu lösender Konflikt zwischen zwei Völkern um Land, Flüchtlinge und Grenzen verstanden werden mußte, gilt heute als Glied eines mit politischen Mitteln nicht zu lösenden Konflikts zwischen Gut und Böse, Zivilisation und Terror, Faschismus und Liberalismus, Islam und Demokratie, Fundamentalismus und Aufklärung, zwischen den Juden und ihren Feinden. Ein Konflikt, bei dem es nur logisch und keineswegs wahnsinnig erscheint, wenn man sich für einen grenzenlosen Krieg rüstet und sich für eine ständige Belagerung verbarrikadiert.
Selbstverständlich kann man auch auf anderem Wege zu einer solchen Ansicht über den Charakter dieses Konflikts gelangen; in jedem Fall aber muß man die starken politischen und ideologischen Kräfte in Betracht ziehen, die dafür sorgen, daß er so verstanden werden soll. Je mehr Juden auf der Welt diesen Konflikt für politisch unlösbar und für potentiell tödlich nicht nur für Israel, sondern für alle Juden auf der Welt halten, um so stärker fällt ihre Unterstützung für ein Israel aus, das seine Nachbarn demütigt, seine Brücken abbricht und seine Mauern errichtet.
Je mehr Angst hierbei mobilisiert werden kann, um so größer ist die Solidarisierung mit den heutigen Befehlshabern Massadas. Die palästinensischen Terroraktionen und die antisemitische Propaganda spielen ihnen dabei in die Hände, weshalb sie beides bedenkenlos stimulieren. Den palästinensischen Terror, indem sie mit ihrer Okkupation systematisch Demütigung, Haß und Hoffnungslosigkeit produzieren, was einen soliden Nährboden für verzweifelte Gewalttaten abgibt. Die antisemitische Propaganda, indem sie systematisch die Grenze zwischen Israelkritik und Judenhaß unterminieren.
(...)