LI 42, Herbst 1998
Das Ende der Phantasie
Die indische Bombe und die Gefahr des FaschismusElementardaten
Textauszug
Die Wüste bebte", gab die Regierung von Indien uns (ihrem Volk) bekannt.
"Der ganze Berg wurde weiß", antwortete die Regierung von Pakistan.
(...)
Was mache ich hier? Warum suche ich nach Resten von Hoffnung?
Gelaufen ist die Sache - sowohl im Falle der Zerstörung der Babri Masjid als auch bei der Herstellung der Atombombe - so, daß der Kongreß den Samen gesät und die Feldfrucht gepflegt hat, und dann kam die BJP und hat die entsetzliche Ernte eingefahren. Sie tanzen Arm in Arm, miteinander verschlungen. Sie sind unzertrennlich, trotz ihrer vorgeblichen Unterschiede. Gemeinsam haben sie uns hierher gebracht, an diesen schrecklichen, schrecklichen Ort.
Die hohnlachenden, johlenden jungen Männer, die die Babri Masjid demolierten, sind dieselben, deren Bilder i den Tagen nach den Atomversuchen in den Zeitungen erschienen. Sie waren auf der Straße und feierten die indische Atombombe, und zugleich "verdammten sie die westliche Kultur", indem sie kistenweise Coke und Pepsi in Abflußgräben schütteten. Ich bin von ihrer Logik ein wenig verwirrt: Coke ist westliche Kultur, aber die Atombombe ist eine alte indische Tradition?
Ja, ich habe davon gehört ` die Bombe steht in den Veden. Das könnte sein, aber wenn man genau genug hinsieht, wird man in den Veden auch Coke finden. Das ist das Großartige an allen religiösen Texten. Man kann darin alles finden, was man will ` solange man weiß, wonach man sucht.
Um aber zum Thema der nichtvedischen neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurückzukehren: Wir stürmen das Zentrum des weißen Wesens, wir übernehmen die diabolischste Schöpfung der westlichen Wissenschaft und nennen sie unser eigen. Aber wir protestieren gegen ihre Musik, ihre Speisen, ihre Kleidung, ihr Kino und ihre Literatur. Das ist keine Heuchelei. Das ist ein Witz.
Es ist so witzig, daß es einen Totenschädel zum Lächeln bringen kann.
Wir sind wieder auf dem alten Schiff. Auf dem Dampfer Authentizität und indisches Wesen.
Wenn eine Kampagne für Authentizität und gegen antinationale Elemente stattfinden soll, dann sollte die Regierung vielleicht ihre Geschichte sortieren und die Fakten in Ordnung bringen. Wenn man es schon machen will, dann kann man es ebensogut auch richtig machen.
Zunächst einmal waren die ursprünglichen Bewohner dieses Landes keine Hindus. Der Hinduismus ist zwar alt, aber es gab Menschen auf der Erde, bevor es ihn gab. Die indische Stammesbevölkerung könnte einen begründeteren Anspruch darauf erheben, in diesem Lande heimisch zu sein, als alle anderen, und wie werden sie vom Staat und seinen Lakaien behandelt? Unterdrückt, betrogen, ihres Landes beraubt, herumgeschoben wie überflüssige Güter. Ein guter Anfang wäre vielleicht, ihnen die Würde wiederzugeben, die sie einst hatten. Vielleicht könnte sich die Regierung öffentlich dazu verpflichten, daß keine derartigen Dämme mehr gebaut werden, daß keine Leute mehr umgesiedelt werden.
Aber das wäre natürlich undenkbar, nicht wahr? Warum? Weil es nicht praktikabel ist. Weil es auf die Stammesbevölkerung nicht wirklich ankommt. Ihre Geschichte, ihre Bräuche, ihre Gottheiten sind entbehrlich. Sie müssen lernen, diese Dinge dem höheren Wohle der Nation zu opfern (der Nation, die ihnen alles entrissen hat, was sie je gehabt haben).
Okay, das kommt also nicht in Frage.
Im übrigen könnte ich eine praktische Liste von zu verbietenden Dingen und von zu zerstörenden Gebäuden aufstellen. Dafür sind einige Recherchen erforderlich, aber auf Anhieb kann ich hier ein paar Vorschläge machen.
Man könnte damit anfangen, eine Reihe von Zutaten auf unserem Speisezettel zu streichen: Chilis (Mexiko), Tomaten (Peru), Kartoffeln (Bolivien), Kaffee (Marokko), Tee, Weißzucker, Zimt (China) ... danach könnten sie dann zu Rezepten übergehen. Tee mit Milch und Zucker beispielsweise (Großbritannien).
Rauchen kommt nicht in Frage. Der Tabak stammt aus Nordamerika.
Cricket, Englisch und Demokratie sollten verboten werden. An die Stelle von Cricket könnte entweder Kabaddi oder Kho-Kho treten. Ich will keinen Aufstand provozieren, und deshalb zögere ich, einen Ersatz für Englisch vorzuschlagen (Italienisch...? Es ist auf einem freundlicheren Wege zu uns gekommen: Heirat statt Imperialismus). Von der sich abzeichnenden, anscheinend akzeptablen Alternative zur Demokratie sprachen wir oben schon.
Alle Krankenhäuser, in denen westliche Medizin praktiziert oder verordnet wird, sollten geschlossen werden. Alle landesweiten Zeitungen eingestellt. Die Eisenbahnen demontiert. Die Flughäfen zugemacht. Und was ist mit unserem neuesten Spielzeug ` mit dem Funktelefon? Können wir ohne es leben, oder soll ich vorschlagen, daß hier eine Ausnahme gemacht wird? Man könnte es in die Spalte "Universell" eintragen. (In diese Rubrik kommen nur lebenswichtige Güter. Keine Musik, keine Kunst oder Literatur.)
Daß es eine gerichtlich zu verfolgende Straftat darstellt, wenn man seine Kinder zum Studium in die USA schickt und selbst dorthin eilt, um sich an der Prostata operieren zu lassen, bedarf keiner besonderen Erwähnung.
Die Kampagne zum Abriß von Gebäuden könnte mit dem Rashtrapati Bhavan in Neu-Delhi beginnen und dann allmählich von den Städten auf die ländlichen Gegenden übergreifen und schließlich zur Zerstörung aller Monumente (Moscheen, Kirchen, Tempel) schreiten, die auf Gelände errichtet sind, das einst der Stammesbevölkerung gehörte oder Wald war.
Das wird eine lange, lange Liste. Dazu würde man Jahre brauchen. Einen Computer könnte ich dafür nicht benutzen, denn das wäre nicht sehr authentisch von mir, nicht wahr?
Ich habe nicht die Absicht, witzig zu sein, ich möchte nur deutlich machen, daß dies mit Sicherheit der kürzeste Weg in die Hölle ist. So etwas wie ein authentisches Indien oder einen echten Inder gibt es nicht. Es gibt kein göttliches Komitee, welches das Recht hätte, eine einzige, autorisierte Version dessen, was Indien ist oder sein sollte, festzuschreiben. Es gibt keine einzige Religion oder Sprache oder Kaste oder Region oder Person oder Geschichte oder Schrift, die Anspruch auf die Alleinvertretung des Landes erheben kann. Was es gibt und nur geben kann, sind Visionen von Indien, verschiedene Sichtweisen ` aufrichtig, unaufrichtig, wunderbar, absurd, modern, traditionell, männlich, weiblich. Darüber kann man streiten, man kann sie kritisieren, preisen, verachten, nicht aber verbieten oder zerbrechen. Nicht zur Strecke bringen.
(...)