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Cover Lettre International 82, Selma Gürbüz
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LI 82, Herbst 2008

Die Logik der operativen Macht

Neulich stieß ich im Internet auf den Bericht eines Kriminellen darüber, wie er im Gefängnis von Tschita in die Zelle von Michail Chodorkowskij verlegt wurde. Er freundete sich mit dem Oligarchen an, sie sahen zusammen fern, stritten sich über Politik, und der einstige Besitzer von JUKOS bewirtete ihn mit Delikatessen – während der Rückfalltäter sich nach der Gemeinschaftszelle sehnte, wo es nicht so streng zuging. Auf den ersten Blick haben wir hier die offenherzige Erzählung eines Menschen, dem etwas Unerwartetes geschehen ist. Eines Tages wurde er mit Chodorkowskij aus der Zelle geführt, er ging hinter dem Oligarchen, der vorne und hinten bewacht wurde. Wie Chodorkowskij hielt auch er die Hände auf dem Rücken, doch später verlangten die Gefängnishüter, er solle bezeugen, daß der Oligarch seine Hände nicht auf dem Rücken gehalten habe, folglich das Haftregime mißachtet und somit das Recht auf eine vorzeitige Entlassung auf Bewährung verwirkt habe.

Nun eröffnet sich der Hintergrund dieser Geschichte. Es stellt sich heraus, daß der Erzähler, ein glückreicher Kartenspieler, gegen Bezahlung Treffen mit einer jungen Frau, die wegen Mordes einsaß, arrangiert hatte. Sie bekamen ein Kind, heirateten, die Frau wurde in den Bereich für stillende Mütter verlegt. In ein paar Monaten sollte das Kind drei Jahre alt werden, wonach, falls der Vater nicht entlassen würde, das Kind der Mutter weggenommen und in ein Heim gesteckt werden sollte. Dem Häftling lag also alles daran, vorzeitig auf Bewährung entlassen zu werden und das Kind zu seinen Eltern zu bringen, damit es in einer Familie aufwachse.

Nun wird die Intrige bloßgelegt: der Kriminelle wurde in die Zelle des Oligarchen eben deshalb verlegt, weil man um seine ausweglose Situation wußte und sie ausnutzen wollte, um Chodorkowskij – und zwar auf gesetzlicher Grundlage – nicht freilassen zu müssen .

Also: 1) Chodorkowskij darf nicht freigelassen werden, obwohl das Gesetz es formal zuläßt; 2) dieser Unmöglichkeit (faktisch Willkür) muß dennoch eine „gesetzliche“ Grundlage untergeschoben werden (d.h., das Gesetz soll auf gesetzlicher Grundlage gebrochen werden); 3) es wird ein Zellengenosse ausgesucht, der aufgrund besonderer Umstände (welche naturgemäß ein Geheimnis der Organisatoren der Sonderoperation sind, wenngleich in diesem Falle einer der Geheimnisträger das Geheimnis preisgab) dazu geeignet ist; 4) nachdem der Zeuge die Mißachtung des Haftregimes bestätigt hat, braucht der fragliche Häftling – gesetzlich völlig einwandfrei – nicht entlassen werden.

Ich würde diese Struktur das Atom der derzeitigen russischen Politik nennen. Im Unterschied zu Sowjet-zeiten besteht das Ziel einer solchen Politik nicht darin, eine Art Orthodoxie einzuimpfen, sondern darin, die Menschen maximal zu vereinzeln, zu zergliedern, sie ihre völlige Machtlosigkeit angesichts des manipulierbaren Gesetzes spüren zu lassen. Das Gesetz erweist sich nach näherer Prüfung als eine Oberfläche der Sonderoperation, ihre Tarnung, ihr wichtigster Teil hingegen bleibt Uneingeweihten verborgen und gehört denjenigen, die diese Operation planen und zu denen kein Kontakt herzustellen ist. Die operative Macht predigt eine Herrschaft in Reinkultur, die sich auf keine beständige Ideologie stützt. Ihre Träger begründen ihre Zugehörigkeit zur Kaste der Erwählten damit, daß sie über geheimes, operatives Wissen verfügen und diesem Wissen bei Bedarf die Form eines Gesetzes verleihen und somit für Uneingeweihte akzeptabel machen können.

Diese Macht ist in sich widersprüchlich: Sie ist mit Demokratie nicht vereinbar, will jedoch deren Früchte genießen; sie umgibt sich mit Chauvinisten, mit Predigern der nationalen Idee, mit zweifelhaften Mystikern, gleichzeitig zieht es ihre Vertreter in den Westen. Dorthin nämlich und nicht ins finstere Eurasien wandern ihre Familien und ihr Kapital ab. Wladimir Putin – wäre er so offenherzig wie der Caudillo ein Militär und nicht ein Tschekist – hätte den berühmten Aphorismus Francos zu seiner Devise machen können: „Für Freunde – alles, für Feinde – das Gesetz“. Bei dem von ihm erschaffenen System ist nicht das wichtig, was einer tut, sondern ob er sich kontrollieren läßt oder nicht, ob er „dazugehörig“ ist oder „fremd“. Das, wofür die „Dazugehörigen“ belohnt werden, wird bei „Fremden“ zum Grund für harte Strafe, obwohl aus Sicht des Gesetzes ihre Handlungen ebenso identisch sind wie das Schema der Steuerhinterziehung beim Häftling Chodorkowskij und beim Chelsea-Besitzer Abramowitsch. Diese Macht ist stolz darauf, daß der direkte Sinn des Geschehens nichts bedeutet, während der wahre, der verborgene Sinn sich im exklusiven Besitz der Vertreter des Clans der Auserwählten befindet, der Hüter der Chiffren.
 
Unter dem Regime der operativen Macht ist alles erlaubt, was kontrollierbar ist: die Erscheinungen werden nicht nach ihrem G-halt, sondern nach dem Maß ihrer Manipulierbarkeit bewertet. Eine solche Macht erschafft Simulakren von Demokratie, Bürgerrechtsschutz, Umweltschutz, Rechtsstaatlichkeit, wobei sie die gleichen Einrichtungen in ihrer spontan entstandenen, sich ihrer Kontrolle entziehenden Form vernichtet.

Diese Logik läßt sich auch auf die Kultur anwenden. Anders als zu Sowjetzeiten ist man nicht bestrebt, die moderne Kunst als solche auszurotten; sie wird entpolitisiert, indem man einige Tabus errichtet; man setzt den Mechanismus der Selbstzensur im Künstler in Gang und erweitert gleichzeitig den Markt der kommerziellen und musealen Kunst. Werke ein und desselben Künstlers können an einer Stelle als Sakrileg verworfen, und woanders als museumswürdig präsentiert werden.

Nehmen wir die Arbeiten Ilja Kabakows, des im Westen bekanntesten russischen Künstlers. Eine davon wurde in der Ausstellung Verbotene Kunst 2006 gezeigt, die im März 2007 im Sacharow-Zentrum stattfand. Auf Drängen orthodoxer Fundamentalisten (unterstützt von Vertretern der operativen Macht) wurde gegen den Direktor des Zentrums und den Kurator eine Strafanzeige erstattet, über welche im Herbst dieses Jahres im Stadtbezirksgericht Taganka von Moskau entschieden werden soll. Im Rahmen der Ermittlungen wurde von der Staatsanwaltschaft ein Gutachten in Auftrag gegeben, zu dessen Erstellung freilich kein Fachmann auf dem Gebiet der modernen Kunst zugelassen wurde. Die ausgesuchten „Experten“ qualifizierten die Ausstellung als Straftat, die nationale und religiöse Fehden schüre. Als ein „Tatwerkzeug“ wurde auch die Arbeit Kabakows Leck mich doch … (Siebdruck vom Ende der achtziger Jahre) erkannt. Die Inquisitoren beschuldigen den Künstler der Verwendung von unflätigen Wörtern vor dem Hintergrund von Pilzen, Birken und putzigen Waldtierchen und setzten das Bild mit fast schon physischer Gewaltanwendung gegenüber den Betrachtern gleich.

Dessen ungeachtet findet Mitte September in zwei Moskauer Galerien und in einem Museum eine Retrospektive des Künstlers statt, zu der ausführliche Kataloge gedruckt werden. Das heißt, eine am falschen Ort (Sacharow-Zentrum für Bürgerrechte) von falschen Leuten (d.h. von der operativen Macht nicht kontrollierbaren) ausgestellte Arbeit wird als Sakrileg gewertet, während die Presse von der triumphalen Rückkehr „des teuersten russischen Künstlers“ in die Heimat und über das außerordentliche Prestige seiner Kunst im Westen jubilierend berichtet. Die im kritischen Zusammenhang abgelehnte Kunst Kabakows wird im kommerziellen Zusammenhang als „die teuerste“ akzeptiert.

Die operative Macht stellt ein post-sowjetisches Phänomen dar. Stalin erschuf eine nie dagewesene politische Polizei, die auf die Erziehung eines neuen Menschen ausgerichtet war, die „revolutionäre Wachsamkeit“ (sprich: Denunziantentum) wurde zu deren höchster Tugend erklärt. Doch unterlag diese Polizei zu Sowjetzeiten der Logik des kommunistischen Entwurfs, auf dessen Trüm-mern auch jene Macht entstand, die nach dem Vorbild der Sonder-operationen aufgebaut ist.

Der Krieg in Georgien erwies die Begrenztheit dieses Modells und die Unmöglichkeit seines Exports. Auf den ersten Blick wurde alles wie nach Noten gespielt, zumal Saakaschwili einen herrlichen Anlaß zur Invasion lieferte. Bereits Stunden später wurde über ungeheuere Verluste unter der ossetischen Zivilbevölkerung und über eine noch größere Zahl von Flüchtlingen berichtet (es gibt bis heute keine Bestätigung dieser Zahlen aus unabhängigen Quellen); es fiel das unheilvolle Wort „Genozid“ und ein Teil Georgiens wurde besetzt, übrigens auch von der abchasischen Seite.

Es folgte die Schaffung einer Pufferzone auf georgischem Territorium und die blitzschnelle Anerkennung von Abchasien und Südossetien durch Rußland. Der internationalen öffentlichen Meinung war von Anfang an die enorme Koordination russischer Aktionen, die präzise Abfolge von Schritten und ihre sofortige Umsetzung suspekt – Indizien einer gut vorbereiteten Operation.

Der westlichen Presse entging die Diskrepanz zwischen dem direkten („Genozid“, „Friedenszwang“) und dem verborgenen (geplante Aktionen von Armee und Geheimdienst) Sinn der durchgeführten Operation nicht. Am Ende wurde Rußland, unabhängig davon, wer Anlaß zum Beginn der Kriegshandlungen gegeben hatte, nicht als Opfer einer Aggression und nicht als Beschützer des ossetischen Volkes erkannt, sondern als Aggressor, der das Völkerrecht bricht, Georgien hingegen als die geschädigte Seite.

Die operative Macht hoffte, die internationale Gemeinschaft in eine Verurteilung des Saakaschwili-Regimes (und indirekt seiner amerikanischen Gönner) hineinziehen zu können, doch sie stieß im Westen erstmals auf einmütige Verurteilung ihrer Handlungsweise und auf die Forderung von Sanktionen gegen Rußland.

Der militärische Sieg schien sich in eine politische Niederlage umzukehren. Doch dann kam die internationale Gemeinschaft ins Grübeln. Welche Sanktionen kann man schon gegen ein Land wie Rußland verhängen? „Ihr wollt uns nicht in die WTO aufneh-men?“ antwortete man aus dem Kreml, „umso besser, wir treten selbst daraus aus!“ Auch mit der Androhung des Hinauswurfs aus der „Runde der großen acht“ läßt sich Rußland nicht einschüchtern, eine Verschärfung des Visa-Regimes würde ebenfalls wenig bringen.

Solches sind lediglich rationale Gründe – die Gründe für die Unmöglichkeit der Verhängung von wirksamen Sanktionen liegen tiefer. Man kann Rußland schwerlich verurteilen, wenn an der Spitze der freien Welt ein Land steht, das einen Krieg im Irak führt und dessen Geheimdienste Bürger anderer Staaten entführen und foltern, ein Land, das Guantanamo zugelassen hat. Man kann ohne Zögern behaupten, daß die operative Macht nie derartig beeindruckende Erfolge verbucht hätte, gäbe es nicht den „Krieg gegen den Terror“. Sanktionen gegen Rußland lassen sich auch deshalb kaum verhängen, weil der Westen den blutigen Krieg in Tschetschenien jahrelang nicht zur Kenntnis nahm.

Es geht also nicht darum, daß Sanktionen gegen Rußland als solche nicht effizient seien. Die Kriterien zur ihrer Verhängung sind schlichtweg verlorengegangen, ja selbst die Berechtigung dazu. Nicht zufällig läßt Rußland Muskeln spielen und redet unentwegt von seiner Größe – seine Regierenden wissen genau, daß Sanktionen nach dem 11.9.2001 nur eine wirkungsvolle Waffe gegen Schwache sind.

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.