LI 68, Frühjahr 2005
Gehirntempo
Über neurologische Anomalien, Bewegung, Denken und ZeitElementardaten
Genre: Bericht / Report
Übersetzung: Aus dem Englischen von Friedrich Griese
Textauszug
Als Junge war ich fasziniert von der Geschwindigkeit, den tollen Geschwindigkeiten in der mich umgebenden Welt. Die Menschen und noch mehr die Tiere bewegten sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. Die Flügel von Insekten bewegten sich zu schnell, als daß man sie hätte sehen können, aber die Schlaghäufigkeit konnte man anhand des Tons beurteilen, den sie aussandten. Bei den Mücken war es ein abscheuliches Geräusch, ein hohes e, bei den dicken Hummeln, die jeden Sommer den Rosenstock umschwirrten, ein angenehmes tiefes Summen. Die Schildkröte, die wir hielten, brauchte manchmal einen ganzen Tag, um den Rasen zu überqueren – sie schien in einem ganz anderen zeitlichen Rahmen zu leben. Aber wie war es dann um die Bewegung der Pflanzen bestellt? Wenn ich morgens in den Garten ging, waren die Rosen ein Stück höher gewachsen, die Ranken ein wenig stärker um das Gerüst geschlungen, doch bei aller Geduld ertappte ich sie nie dabei, wie sie sich bewegten.
Solche Erfahrungen bewogen mich dazu, mich der Photographie zuzuwenden, denn sie erlaubte mir, die Bildfolge zu verändern, sie zu beschleunigen oder zu verlangsamen, damit ich der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit entsprechend die Details einer Bewegung erkennen oder durch andere Einstellungen das Erfassungsvermögen des Auges übertreffen konnte. Ich mochte Mikroskope und Ferngläser – meine älteren Brüder, Medizinstudenten und Vogelbeobachter, hatten welche – und stellte mir die Verlangsamung oder Beschleunigung von Bewegungen als eine Art zeitlicher Entsprechung vor: die langsame Bewegung als eine Vergrößerung, eine Mikroskopie der Zeit, und die beschleunigte Bewegung als eine Verkürzung, eine Teleskopie der Zeit.
Ich experimentierte mit dem Photographieren von Pflanzen. Vor allem Farne fand ich sehr verlockend, nicht zuletzt wegen ihrer einem Krummstab oder einem Geigenhals ähnelnden eng aufgerollten Stengel, die gespannt waren von der in ihnen enthaltenen Zeit, wie Uhrfedern, und die Zukunft aufgedreht in sich bargen. Ich setzte also die Kamera im Garten auf ein Stativ und machte im Stundentakt Aufnahmen von Geigenhälsen; dann entwikkelte ich die Negative, machte Abzüge und band ein Dutzend davon zu einem kleinen Daumenkino zusammen. Und dann konnte ich wie durch Zauberei sehen, wie die Geigenhälse sich entrollten, gleich den eingerollten Papiertrompeten, in die man auf dem Jahrmarkt bläst; und was in Echtzeit mehrere Tage gedauert hatte, spielte sich in ein, zwei Sekunden ab.
Nicht so einfach wie die Beschleunigung der Bewegung war die Verlangsamung – da war ich auf meinen Vetter angewiesen, einen Photographen, der eine Schmalfilmkamera besaß, die über hundert Bilder pro Sekunde aufnehmen konnte. Damit konnte ich die Hummeln bei der Arbeit einfangen, wie sie in dem Rosenstock schwebten, und ihre durch die Schnelligkeit unscharfen Flügelschläge so weit verlangsamen, daß jede Auf- und Abbewegung deutlich zu erkennen war.
Weil ich mich für Geschwindigkeit und Bewegung und Zeit und für die Möglichkeiten interessierte, sie schneller oder langsamer erscheinen zu lassen, fand ich besonderen Gefallen an zwei Geschichten von H. G. Wells: Die Zeitmaschine und Der neue Akzelerator, mit ihren lebhaft vorgestellten, beinahe filmischen Beschreibungen einer veränderten Zeit.
„Als ich beschleunigte, folgte die Nacht dem Tag wie das Flattern eines schwarzen Flügels“, berichtet Wells’ Zeitreisender: „… Und ich sah die Sonne über den Himmel hüpfen, ihn jede Minute überspringend, so daß jede Minute einen Tag anzeigte. (…) Die langsamste Schnecke, die je dahinkroch, sauste zu schnell für mich vorbei. (…) Als ich meine Fahrt weiter beschleunigte, verschmolz der Pulsschlag von Tag und Nacht zu einem fortlaufenden Grau. (…) Die springende Sonne wurde zu einem Feuerstreifen … der Mond war wie ein blasses schwingendes Band. (…) Ich sah die Bäume wachsen und sich wie Dampfwolken verändern. (…) Ich sah hohe Gebäude sich erheben, verschwommen zuerst, dann deutlich, und wieder vergehen wie Träume. Die ganze Erdoberfläche schien verändert – sie schmolz und zerfloß unter meinem Blick.“
Das Gegenteil davon geschieht im Neuen Akzelerator, der Geschichte einer Droge, welche die eigenen Wahrnehmungen, Gedanken und den Stoffwechsel vieltausendfach beschleunigt. Ihr Erfinder und der Erzähler, die die Droge gemeinsam genommen haben, gehen hinaus in eine vereiste Welt und beobachten:
„Das waren Menschen wie wir und doch nicht wie wir, erstarrt in nachlässigen Stellungen, gefesselt inmitten irgendeiner Bewegung. … eine Biene, die mit langsam schlagenden Flügeln mit der Geschwindigkeit einer besonders trägen Schnecke durch die Luft glitt.“
Die Zeitmaschine erschien 1895, als man sich stark für die neuen Möglichkeiten der Photographie und Filmtechnik interessierte, Bewegungsdetails zu enthüllen, die mit bloßem Auge unerkennbar sind. Étienne-Jules Marey, ein französischer Physiologe, hatte als erster gezeigt, daß ein galoppierendes Pferd zu einem bestimmten Zeitpunkt mit keinem seiner vier Hufe Bodenberührung hat. Seine Arbeit regte, wie die Historikerin Marta Braun ans Licht brachte, Eadweard Muybridge zu seinen berühmten photographischen Bewegungsstudien an. Seinerseits von Muybridge angeregt, entwickelte Marey Hochgeschwindigkeitskameras, welche die Bewegungen von fliegenden Vögeln und Insekten verlangsamen und beinahe zum Stillstand bringen konnten; und umgekehrt benutzte er den Zeitraffer, um die ansonsten fast unmerklichen Bewegungen von Seeigeln, Seesternen und anderen Meerestieren zu beschleunigen.
Gelegentlich habe ich mich gefragt, ob Tiere und Pflanzen auch zu ganz anderen Geschwindigkeiten fähig sein könnten als denen, die wir beobachten: wie weit sie durch innere Beschränkungen eingeengt sind und wie weit durch äußere, etwa die Erdgravitation, die von der Sonne aufgenommene Energiemenge, den Sauerstoffgehalt der Atmosphäre und dergleichen. Daher faszinierte mich eine weitere Geschichte von Wells, Die ersten Menschen auf dem Mond, in der sehr schön beschrieben wird, wie das Wachstum von Pflanzen auf einem Himmelskörper, auf dem die Gravitation nur einen Bruchteil von jener der Erde beträgt, dramatisch beschleunigt wird: „Mit unbeirrbarer Sicherheit und raschem Entschluß trieben diese erstaunlichen Samen ein Würzelchen zum Boden hinab und eine sonderbare, ballenartige Knospe in die Luft. (…) Die ballenartigen Knospen schwollen und strafften sich und sprangen ruckartig auf, wobei sie ein Krönchen aus winzigen spitzen Zipfeln hervortrieben … die rasch länger wurden, sichtlich länger wurden, während wir zuschauten. Die Bewegung war langsamer als die eines Tieres und rascher als die einer jeden Pflanze, die ich zuvor gesehen habe. Wie kann ich es Ihnen veranschaulichen, die Art, wie dieses Wachstum weiterging? (…) Haben Sie einmal an einem kalten Tag ein Thermometer in Ihre warme Hand genommen und zugeschaut, wie der Quecksilberfaden in dem Röhrchen langsam steigt? So wuchsen diese Mondpflanzen.“
Hier wie auch in der Zeitmaschine und im Neuen Akzelerator war die Beschreibung unwiderstehlich filmisch und brachte mich auf den Gedanken, ob der junge Wells vielleicht Zeitrafferphotos von Pflanzen gesehen oder damit experimentiert hatte wie ich.
(...)