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LI 124, Frühjahr 2019

Der Siebdruckstar

Andy Warhol – Maler des modernen Lebens und Riese der Avantgarde

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Warhol war der erste Künstler, der das Potential an Struktur und Rhythmus erkannte, welches der Siebdruckprozeß enthält: Er kann gleichzeitig mechanisch und expressiv sein. Der inhärente Rhythmus hängt mit einem bestimmten Zug des Siebdrucks zusammen: Der übertreibt bei einem photographisch gewonnenen Bild den Kontrast zwischen Hell und Dunkel, er verstärkt das Potential dieser Hell-Dunkel-Werte, ein Gefühl von Form mitzuteilen, und er macht, daß auch die dunklen Partien eines Photos sich beinahe lebendig anfühlen. Warhol begriff außerdem, daß die wahre Substanz der Photographie der Schatten ist, den ihr Gegenstand wirft und der auf ihren Gegenstand geworfen wird. Dies war ein Akt profunder poetischer Gleichsetzung. Das Wesentliche seiner wichtigsten Innovation, die heute noch nachhallt, war eben dies: die Reziprozität von Malerei und Drucktechnik. Was ganz ihm gehörte, war die Identifikation mit dem fatalistischen Glamour eines Schattens.
   Besonders wichtig war es, daß der Siebdruck die Welt außerhalb des Studios – die ungefilterte Welt der Schlagzeilen, der gebrochenen Herzen, Stars und Katastrophen – ins Zentrum der Malerei holte. Warhol band seine eigene Sensibilität an die Werte der Boulevardpresse, an Unglücksstorys von ungewöhnlicher Peinlichkeit, an einen sensationellen Gefühlskult, der zuvor in den oberen Etagen der Kunst keinen Zutritt gehabt hatte. Seine Arbeiten wurden interessant, als er versuchte (kühn, aber auch irgendwie schicksalsergeben), diese spezielle Sensibilität mit der ausholenden Grandiosität und Erhabenheitskühle der Gemälde von Clyfford Still oder Barnett Newman zu verbinden. Dies tat er, indem er die Gewichtungen und Rhythmen der schwarzen Siebdruckfarbe, die sich sammelte oder verdünnte, den Blick des Betrachters über die Leinwand führen ließ, während dieser das Bild in sich aufnahm. Dem Effekt, den jene Künstler mit Palettenmesser oder Pinsel erzielten, näherte sich Warhol mit seinem Siebdruckrakel. Warhols Bilder funktionieren besonders gut, wenn man spüren kann, daß er die Großartigkeit und luzide Trauer der klassischen Kunst anstrebt. Diesen Zügen fügte er eine besondere, in formalistischer Kunst unübliche Süße hinzu, ihm ganz eigen. Das verdeckte Drama in einem Bild von Warhol ist die Dreistigkeit der Frage: „Warum denn nicht so etwas? Kann nicht das auch Kunst sein?“
   Andy Warhol wurde 1938 in Pittsburgh geboren, das jüngste Kind slowakischer Einwanderer. Sein Vater war Bergmann. Die Familie war arm; es herrschte die große Wirtschaftskrise. Er war ein kränkliches, in sich zurückgezogenes, von den Eltern vergöttertes Kind, das Kinomagazine liebte, die Ikonen der orthodoxen Kirche und andere Jungs. Seine frühe zeichnerische Begabung verschaffte ihm einen Platz am Carnegie Institute of Technology, wo er das traditionelle Studium – Zeichnen nach Gipsabgüssen und dergleichen – mit hervorragenden Noten absolvierte. Nach dem Abschluß ging Warhol nach New York, um sich als kommerzieller Künstler einen Namen zu machen.
   In den frühen Fünfzigern, ehe die Photographie das Aussehen der gedruckten Werbung veränderte, war die gezeichnete Illustration das Mittel zur Verzauberung und Verführung der Konsumenten. Ein Illustrator mit einem ausgeprägten eigenen Stil konnte seinen Weg machen, und Warhol erwarb sich rasch den Ruf eines Mannes, der den Konsumartikeln den Anschein von Witz und Eleganz verleihen konnte.

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   Fast zu derselben Zeit begann auch Robert Rauschenberg, Siebdruckbilder in seine Arbeiten einzubauen, nachdem er die großen Industriedrucksiebe in Warhols Studio gesehen hatte. Er benutzte die Drucke in einer Art kubistischer Collagetechnik; die Bilder wurden oft übermalt oder auf andere Weise verändert, und sie wurden immer Teil einer größeren Komposition. Sie haben etwas von Fundstücken, die man in ein Album klebt; oft sind sie nostalgische oder sogar elegische Takte oder Gesänge in Rauschenbergs fortlaufendem visuellen Tongedicht.
   Im Gegensatz hierzu erkannte Warhol rasch die schiere graphische Wucht des Siebdruckbildes und seine transformationelle Macht: Es macht jeden Gegenstand zu einem Drama aus Licht und Schatten, zu einer unmittelbar wirksamen ästhetischen Potenz, die im Jetzt des photographischen Augenblicks gründet. Mit dem Sieb bewaffnet, schritt Warhol von einem graphisch aufgefaßten, linearen Umriß voran zu dem Bild, das mit einer entscheidenden Zugbewegung der großen Rakel entstand. Man kann spüren, wie die Ausdruckspotenz seines Materials unter seinen Händen lebendig wird; das Geheimnis der Dunkelkammer wird mit jedem Abzug beschworen.
   So groß war die elektrisierende Macht der Photographie, daß sie Warhols handgemalten Stil nun ganz und gar überwältigte, und Ende 1961 war die Verwandlung abgeschlossen. Es sollte dann ein weiteres Vierteljahrhundert (mehr oder weniger) dauern, bis er der Photographie wieder die Zeichnung vorzog.

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   Die Bilder Warhols führen den Glamour der Berühmtheit in unmittelbarer Nachbarschaft zu Bildern des amerikanischen Alptraums vor: schwere Autounfälle, elektrische Stühle, Rassenunruhen. Das Blitzlicht erhellt alles gleichermaßen. Sein Œuvre deutet an, daß all dies in der Tat unauflösbar zusammenhängt. Warhol kultivierte gegenüber dieser Welt der Bilder eine radikale Offenheit, und auch gegenüber den Geistes- und Lebenszuständen, welche die Photos festhalten. Diese Offenheit schließt die Bilder von Rassenunruhen aus den Jahren 1963 und 1964 ein, die ihn zusammen mit den Selbstmorden und anderen Katastrophen aus etwa dieser Zeit als scharfen Gesellschaftskritiker zeigen. Die Rassenunruhen-Bilder schockieren immer noch mit ihrer beiläufigen Brutalität. Sie lassen sich nicht zum Publikum herab, und mehr als irgendwelche anderen Werke aus dieser Zeit bringen sie die Wirklichkeit der Straße ins Museum.
   Mustard Race Riot (1963) löst immer noch Gefühle der Wut und Beschämung aus – es ist ein synkopiertes, viermal übereinander montiertes Raster aus drei Ansichten (nach Pressephotos) von einem modisch gekleideten Schwarzen, der von einem Polizeihund angefallen wird. Das Bild ist, indem es das Geschehen eingefroren hat, Zeuge und Richter in einem: Der Mann mit seinem Strohhut und der Bulle und der Hund, die ihre zornige Verabredung mit dem Schicksal einhalten. Dieses Bild scheint mir immer noch verblüffend radikal für einen Künstler, der so insistent den kommerziellen Erfolg umwarb. Es ist, als hätte Jeff Koons neben Luftballontieren und anderen Oden an die Kindheit mit größter Sorgfalt Skulpturen aus rostfreiem Stahl hergestellt, die zeigen, wie unbewaffnete junge Schwarze von der Polizei erschossen werden. Was wir wahrscheinlich nicht zu Gesicht bekommen werden.
   Wenn Warhol nichts weiter geschaffen hätte als die Bilder von Rassenunruhen und die Death-and-Desaster-Bilder, so wäre er immer noch eine bedeutende Figur in der Geschichte der Kunst.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.