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LI 148, Frühjahr 2025

Vom Libanon aus gesehen

Das Ende eines Landes, das Ende einer Welt?

(…)

Nichts ist wie zuvor 

Das gesamte Gebäude erzitterte. In der Zeitungsredaktion höre ich Schreie. Alle eilen aufs Dach. Von dort oben erkennt man dichten Qualm, der über der südlichen Vorstadt aufsteigt, die nur einige Kilometer entfernt liegt. Der Krieg hat vor fast einem Jahr begonnen. Im Laufe der letzten Tage hat er eine brutale Intensivierung erfahren, als in mehreren Regionen Tausende Pager und Funkgeräte explodierten, die der Hisbollah gehörten. Das war am Dienstag, dann am Mittwoch. Am Freitag hat Israel ein Gebäude bombardiert, wobei fast fünfzig Menschen, darunter zahlreiche Zivilisten, starben und ein Großteil des Oberkommandos von al-Radwan, der Eliteeinheit der Hisbollah, ausgeschaltet wurde. Am Montag hat der Libanon seinen mörderischsten Tag seit Ende des Bürgerkriegs erlebt, mit Hunderten von Toten und Zehntausenden, die unter fortwährendem israelischem Beschuß voller Angst aus ihren Wohnungen flohen. 

Was aber an diesem Freitag, dem 27. September 2024, geschah, ist von ganz anderer Dimension. Als wir die Wucht der Bombardierungen hörten, haben wir das sofort begriffen. Fünfundachtzig 900-Kilo-Bomben wurden über der südlichen Vorstadt abgeworfen. Damit konnte man ein ganzes Stadtviertel plattmachen und sämtliche Untergeschosse zerstören. Und es war genug, um ganz Beirut erzittern zu lassen und uns – bei der Zeitung wie anderswo – das Gefühl zu geben, Ziel des Angriffs gewesen zu sein.

Vor unseren Augen ist eine Welt zusammengebrochen. Hassan Nasrallah ist tot – die Information sollte tags darauf von beiden Parteien bestätigt werden. Mit der Liquidierung des mächtigsten, meistverehrten wie meistgehaßten Mannes des Libanon wird das Land ins Unbekannte hineingestoßen. Ein Jahr lang befanden wir uns am Rande des Abgrunds und haben Gaza brennen sehen, während wir in Anbetracht der Gleichgültigkeit des Rests der Welt hofften, nicht dasselbe Schicksal zu erleiden. An diesem Freitag, dem 27. September, sind wir dann selbst kopfüber in den Abgrund gestürzt, ohne auch nur zu ahnen, wie tief er sein würde.

Papa, was war das?“ Der Krieg hat uns schließlich in Beirut eingeholt. Am anderen Ende der Leitung fragt mich Louise, was da passiert sei. Seit zwölf Monaten schon hält mich das Thema gefangen, stelle ich mir alle möglichen Szenarien vor, lese ich alles und höre mir alles an, was irgendwie damit zusammenhängen könnte. In dem Moment aber, als ich meiner Tochter antworten soll, bringe ich kein Wort über die Lippen. Was soll ich ihr sagen? Daß Israel dabei ist, unser Land zu bombardieren und die Gefahr besteht, daß es zum vierten Mal in seiner Geschichte bei uns einmarschiert? Daß die Hisbollah uns in einen neuen Krieg hineingezogen hat, der noch absurder ist als die anderen, und nur um Chamenei zu gefallen? Daß nunmehr alles möglich ist: Die Explosion oder die Implosion von allem, ein Regionalkrieg oder ein Bürgerkrieg, der neue Libanon oder das Ende des Libanon? Wie soll ich ihr in wenigen Worten sagen, daß nach dem Jahr, das wir durchlebt haben, nichts mehr so sein würde wie zuvor …

(…)

Die Welt, wie wir sie kannten, gibt es nicht mehr. Doch befinden wir uns auch nicht mehr in der Phase ihres Zusammenbruchs. Wir befinden uns in der Phase des Umbruchs. Alles geht so schnell. Die Geschichte beschleunigt sich derart, daß es uns nicht mehr möglich ist, etwas Abstand zu den Ereignissen zu gewinnen. Der Trumpismus ist ein Wirbelsturm. Aber er hat nicht mehr den Charakter von etwas, das vorüberzieht. Er ist der klarste und vulgärste Ausdruck einer Zeitenwende. Gaza war in diesem Sinne nur der letzte Nagel, der in den Sarg einer bereits wankenden liberalen Weltordnung geschlagen wurde. Von nun an darf man weder zweifeln noch hoffen. Der mächtigste Mann der Welt will das internationale System torpedieren und spielt dazu den schlimmsten Diktatoren des Planeten in die Hände. Er stellt die Unverrückbarkeit der Grenzen in Frage, spuckt auf das Recht und behandelt seine sogenannten europäischen Verbündeten als Fußabtreter. Ohne mit der Wimper zu zucken verkündet er sein Projekt einer ethnischen Säuberung des Gazastreifens und im Weiteren seine neoimperialistischen Anwandlungen in Bezug auf Grönland, Kanada oder den Panamakanal.

Was bedeutet das für den Libanon? Paradoxerweise hat sich die Atmosphäre in der Zedernrepublik innerhalb nur weniger Wochen komplett verändert. Wir haben einen neuen Präsidenten, Joseph Aoun, den früheren Oberbefehlshaber der Armee, der ein ehrbarer Mann und seinem Amt gewachsen zu sein scheint. Einen neuen Premierminister, Nawaf Salam, den früheren Präsidenten des Internationalen Gerichtshofs – welch ein Prestige! –, 
und eine neue Regierung, die auf dem Papier die seit Jahrzehnten erfolgversprechendste.

Ja mehr noch: Die Hoffnung ist zurückgekehrt! Das Assad-Regime, das dem Libanon und seinem eigenen Volk so viel Leid zugefügt hat, ist gefallen. Die iranische „Achse des Widerstands“ ist in sich zusammengebrochen. Die Hisbollah ist schwächer denn je. Und man fängt wieder an, von einem „neuen Zeitalter“ der Stabilität und des Wohlstands zu träumen.

Die Hoffnung wurde jedoch aus dem Abgrund des Schreckens geboren. Das ist evident. Dies alles zu verarbeiten, ist deutlich schwieriger. Ohne die Massaker des 7. Oktober [2023], ohne das Blutbad in Gaza, ohne die Liquidierung von Hassan 
Nasrallah, ohne die Zerstörung eines Teils des Libanon, wäre das, was folgte, nicht möglich gewesen. Mußte es erst so weit kommen, damit der Firnis bröckelt? Mußten erst Hunderttausende alles verlieren, damit Millionen anderer wieder an die Zukunft glauben können?

Die Genese des „neuen Zeitalters“ konfrontiert uns auf moralischer und ethischer Ebene mit den größten Widersprüchen. Kann man einen Moment feiern, der urplötzlich aus Tod und Ruinen erstanden ist? Kann man die Strategie der systematischen Zerstörung, die von der israelischen Armee angewandt wurde, anprangern und sich gleichzeitig über ihre geopolitischen Folgen zumindest teilweise freuen?

Wir dürfen nicht naiv sein. Aufgrund des Wesens der Hisbollah, des Assad-Regimes und der iranischen „Achse des Widerstands“ konnte das nur in einem Blutbad enden. Das darf uns aber nicht daran hindern, über die Konsequenzen dieser Entwicklung nachzudenken.

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 149 erscheint Mitte Juni 2025.