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Cover Lettre International, François Fontaine
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Inhaltsverzeichnis

LI 112, Frühjahr 2016

Die Mafia und die Angst

Ein pathologisches System der Macht hinter der Maske der Respektabilität

(…)

In Sizilien lernt man schon von klein an, der Realität des Todes und des Lebens ins Auge zu sehen. Es bleibt keine Zeit, sich Illusionen hinzugeben.

Die Namen der Opfer sind aber auch ins Gedächtnis der Mörder eingebrannt, die mit ihren Erinnerungen leben müssen.

Die Mafiosi insbesondere der älteren Generation haben ein ernstes, ich würde fast sagen „institutionell“ geprägtes Verhältnis zum Tod. Mord ist nie ein impulsiver Akt, und er kann nicht durch persönliche Rache motiviert sein. Er ist ein Akt der Gewalt, zu dem man nur dann greift, wenn er den Interessen der Gesamtorganisation dient. Aus diesem Grund braucht er auch die Zustimmung des obersten Führungsgremiums. Es gibt zwei Entscheidungsebenen. Die höchste ist die „Kommission“, wenn bedeutende Vertreter der Zivilgesellschaft zum Opfer bestimmt sind oder Mafiosi, die gegen interne Regeln verstoßen haben. Bei weniger prominenten Opfern bleibt die Entscheidung dem Boß der jeweiligen territorialen Gruppe überlassen.

Wenn Mörder gegen diese strengen Regeln verstoßen, riskieren sie die Todesstrafe wegen Ungehorsam oder den Ausschluß aus der Organisation, weil sie für die ihnen übertragene Aufgabe ungeeignet sind. Im Laufe von Ermittlungen gegen die Mafia haben wir dank Abhörwanzen die „Lektionen über die Mafia“ mitgehört, die der bürgerliche Mafiaboß Dr. Giuseppe Guttadauro, ein bekannter Chirurg, einem jungen Mafioso aus dem Volk erteilte, der in der Organisation aufsteigen wollte. Guttadauro erklärte ihm die eisernen Regeln und die Grundprinzipien der Organisation.

Schon seit den Anfängen der Mafia gab es so viele Mafiabosse bürgerlicher Herkunft, daß die Organisation als ein tödliches Amalgam definiert wurde: Ihr Hirn ist bürgerlich, ihr bewaffneter Arm proletarisch. Aus diesem Grund ist die mafiöse Gewalt nicht anomisch, also normen- und regellos. Sie steht vielmehr im Dienst einer Ordnung parallel zur institutionalisierten Ordnung und respektiert folglich die bestehenden sozialen Hierarchien.

Gaetano Badalamenti, einer der angesehensten Bosse der Volksmafia, pflegte zu sagen: Gegen den Staat können wir keinen Krieg führen.“ Mit „Staat“ meinte er die herrschenden Klassen, die strategisch wichtige staatliche Positionen besetzen. Aus diesem Grund kann gegen einen Vertreter der oberen Klasse keine Gewalt verübt werden, es sei denn, sie wird von Angehörigen derselben Klasse befohlen, genehmigt oder wenigstens stillschweigend gebilligt. In solchen Fällen wird Gewalt gefordert oder genehmigt, weil das Opfer mit seinem Verhalten die Interessen seiner eigenen sozialen Klasse gefährdet. Mord gilt somit als die Ultima ratio, eine radikale Lösung, zu der man nur dann greift, wenn das Opfer nicht mit anderen Mitteln dazu gebracht werden kann, sich den Erfordernissen zu unterwerfen. In Gerichtsprozessen konnte rekonstruiert werden, wie auf dem Weg über Personen, die dem Opfer nahestanden und Autorität und Glaubwürdigkeit besaßen, versucht wurde, Einfluß zu nehmen, bevor man es tötete.

(…)

Strategien für den Umgang mit der Angst

Das Phänomen der Angst spielte in der Psychoanalyse bekanntermaßen historisch schon früh eine zentrale Rolle. Die Manifestation und Ausgestaltung der Angst in normaler oder pathologischer Form ist der rote Faden, der das menschliche Leben durchzieht. Man könnte die Lebensgeschichte eines Menschen erzählen, indem man beschreibt, wie er vom ersten Wimmern als neugeborenes Baby an auf die Grundängste reagiert, wie er mit diesen Ängsten umgeht und sie bewältigt.

Doch die Angst bestimmt nicht nur das individuelle, sondern auch das soziale Leben. Bekanntermaßen ist letztlich jede Kultur ein findiger Mechanismus, um das menschliche Leben trotz der Gewißheit des Todes und trotz der Angst vor dem Tod lebenswert zu machen.

Dies gilt um so mehr für die sizilianische Gesellschaft, wo die Angst in ihrer radikalsten Form, der Todesangst, im kollektiven Leben eine Schlüsselrolle spielt. Diese Angst führte zur Entwicklung kultureller Strategien und Schutzmechanismen, die schon in früher Kindheit durch Erziehung, die Beobachtung anderer sowie durch eigene Erfahrungen erlernt werden.

Ein erstes bedeutsames Anzeichen auf die jahrhundertelange Konditionierung der kollektiven Psyche und der daraus resultierenden Unsicherheit durch die Angst, tritt auf sprachlicher Ebene in Erscheinung.

In der sizilianischen Umgangssprache gibt es keine Futurform des Verbs.

Man sagt beispielsweise nicht: „Ich werde dieses und jenes tun.“ oder „Ich werde abreisen.“, sondern man verwendet das Konditional: „Ich müßte dieses und jenes tun.“ oder „Ich müßte abreisen.“

Dieses „ich müßte“ bekundet die Unmöglichkeit, sichere Vorhersagen für die Zukunft zu treffen, weil Generationen von Menschen verinnerlicht haben, daß überall Gefahren lauern oder daß ein höherer Wille jeden Plan durchkreuzen kann.

Aus demselben Grund ist das Gefühl der Hoffnung, das ja Vertrauen in die Zukunft voraussetzt, wenig verbreitet.

Es geht um Leben und Tod, und deshalb verläßt man sich nicht auf eine trügerische Hoffnung, sondern auf die sichere Gewißheit der Vernunft. Der Sizilianer wettet nicht, er plant und rechnet.

Um sich das eigene Überleben zu sichern, setzt er auf seine Fähigkeit, Tag für Tag ununterbrochen jedes Detail der Wirklichkeit genauestens zu prüfen, um ohne zeitliche Verzögerung selbst die kleinste Veränderung zu erkennen, jede kaum merkliche Anomalie, die auf eine Gefahr und auf eine sich anbahnende Veränderung im Gleichgewicht der Kräfte hindeutet.

(…)

Manchmal passiert es, daß man in einem Gespräch von seinem Gegenüber unterbrochen wird.

Niemand mißt dem irgendeine Bedeutung bei. Aber wenn ein Mafiaboß von einem Untergebenen unterbrochen wird, kann dies ein Signal dafür sein, daß er innerhalb der Organisation degradiert wurde und man insgeheim seinen Sturz vorbereitet. Wenn dir jemand den Respekt versagt, indem er dich im Beisein anderer unterbricht, kann das zweierlei bedeuten: Entweder er hat die Selbstbeherrschung verloren (und stellt damit eine – wenngleich beherrschbare – Gefahr dar), oder er weiß, daß er von anderen gedeckt wird und somit etwas wagen kann, was zuvor undenkbar gewesen wäre.

Auch Mimik und Körpersprache des Gegenübers müssen genau beobachtet werden. Ein rascher Blick des Einvernehmens, den zwei scheinbar verfeindete Bosse während eines großen Gipfeltreffens tauschen, kann darauf hindeuten, daß sie heimlich ein Bündnis besiegelt haben, das die bisherigen Machtverhältnisse umkehrt. Dadurch ist das Leben eines dritten Bosses gefährdet, der, wenn er nicht abgelenkt war und den einvernehmlichen Blick registriert hat, von nun an Angst hat und überlegt, wie er sich retten kann.

Weil jedes winzigste Verhaltensdetail von allen anderen permanent registriert wird, ist die Kontrolle dessen, was man sagt, die Kontrolle des eigenen Blicks und der eigenen Körperhaltung, aber auch die Kunst der Täuschung und Verstellung eine wichtige Überlebenstechnik.

Um jemanden zu täuschen, der zum Opfer bestimmt ist, und zu verhindern, daß er reagieren kann, wird bisweilen eine regelrechte Show inszeniert. Man organisiert ein geselliges Beisammensein, ißt und trinkt, scherzt und tauscht Erinnerungen aus. In einer solchen friedvollen Atmosphäre wiegt sich das Opfer in Sicherheit. Es erhält von allen Seiten Signale der Entspannung, so daß es in seiner Wachsamkeit nachläßt.

Erst am Ende des Mahls wird das Opfer in einer Art Abschiedszeremoniell festgehalten und unter Abschiedsgrüßen der Versammelten erdrosselt; einige äußern sogar ihr Bedauern, daß sie zu einer so radikalen Lösung gezwungen sind. Eine Essenseinladung, der Signale einer Disharmonie vorausgingen, kann daher die Begegnung mit dem Tod sein.

(…)

Als Mitglied einer mafiaartigen Vereinigung profitiert der einzelne von der sorgsam aufgebauten und gewachsenen Fähigkeit der Organisation, in der Bevölkerung Angst zu verbreiten; darin besteht ihr soziales Kapital. Und somit werden die konsolidierte Macht des kriminellen Kollektivs und seine Fähigkeit zur Einschüchterung zu Instrumenten der Einflußnahme, die jedem Mitglied zur Verfügung stehen.

In meiner langen Berufslaufbahn habe ich Tausende Mafiosi kennengelernt und konnte feststellen, daß ein Großteil von ihnen nicht so sehr vom Reichtum, sondern von der Macht angezogen war. Sie waren getrieben von dem Wunsch, persönliche und nahezu ausschließliche Macht über das Leben und den Tod anderer zu besitzen und in einer Gesellschaft, in der man entweder herrscht oder beherrscht wird, einem ansonsten sinnlosen Leben Bedeutung abzugewinnen.

Mehr als den physischen Tod fürchten viele Mafiosi aus einfachen Verhältnissen den Zustand, lebendig tot, „tot im Ei“, also eine Totgeburt zu sein: „ein mit nichts vermischter Niemand“. Diese sizilianische Redewendung bezeichnet ein Leben in völliger Anonymität und sozialer Unsichtbarkeit, das einen fast durchsichtig und für andere unsichtbar macht, als würde man nicht existieren, als würde man den gemeinschaftlichen Raum nicht bewohnen.

Sich die Achtung anderer zu erwerben, ein „uomo di rispetto“ zu sein, wie sich die Mafiosi gern selbst definieren, war und ist für viele der Ansporn zum Eintritt in eine Organisation, die mit nahezu magischer Kraft die Ohnmacht des einzelnen in die Allmacht des Kollektivs verwandelt – eine Allmacht, an der man selbst partizipiert. Wenn man der Organisation angehört, ist man nicht mehr „ein mit nichts vermischter Niemand“. Man ist „Cosa nostra“, man gehört zu denen, die nicht beherrscht werden, sondern herrschen.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.