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LI 124, Frühjahr 2019

München toxisch

Die bayerische Räterepublik 1919 und die deutsch-russischen Verbindungen

Aus der Geschichte lernt man nach Hegel nur, daß sich aus ihr nichts lernen läßt, jedenfalls nicht im Sinne eines allgemeingültigen Rezepts oder einer Handlungsanleitung. Doch ist sie unverzichtbar für eine informierte Vorstellung von der Vergangenheit und davon, wie Menschen mit krisenhaften Situationen umgehen, sie meistern oder darin untergehen können. Im Falle des hundertsten Jahrestages der Novemberrevolution 1918 und der Räterepublik 1919 erscheint es ratsam, sich etwas aus der Berlin-Zentriertheit zu lösen, die Besonderheit des Münchener Schauplatzes ins Auge zu fassen und München auf der Karte der europäischen Welt- und Bürgerkriegsszene einzuzeichnen. Die Verbindung von München und Moskau läßt sich nicht allein auf der Ebene einer Funkspruch-Kommunikation zwischen München und Moskau nachvollziehen, auch nicht nur auf der Ebene der Wirksamkeit „fremdländischer“ Agitatoren oder des Feindbilds vom „jüdischen Bolschewismus“ verhandeln; um sie zu verstehen, muß man das  Zusammenfließen von Strömungen, Akteuren, Ideen nachzeichnen, die auf verhängnisvollste Weise über München hinaus geschichtsmächtig geworden sind.
   Unsere Erinnerungs- und Gedenkkultur bewegt sich in den Zyklen von Jahrestagen und Jubiläen und wird weniger bestimmt von Brüchen, Zäsuren, veränderten Konstellationen in einer Gegenwart, die uns zwingt, stets neue Fragen an die Vergangenheit zu stellen. Das fällt besonders auf, wenn sich die Jahre runden: 2014 hundert Jahre Ausbruch des Ersten Weltkriegs, im letzten Jahr hundert Jahre Russische Revolution, 2019 hundert Jahre Bauhaus oder der Friede von Versailles oder 250. Geburtstag von Alexander von Humboldt. Und 2018 einhundert Jahre Novemberrevolution. Dieser Jahrestag gehört zu einer bis auf den Tag genauen Serie: 9. November 1918, 9. November 1923, 9. November 1938, 9. November 1989. Diese fast lineare Sequenz hat etwas Fatales, ja Rätselhaftes an sich. Sie macht stutzig und wirft Probleme auf: Wie kann man am 9. November die Wiedervereinigung feiern, wenn das Datum zusammenfällt mit solchen anderen wie dem Hitler-Putsch von 1923 und der „Reichskristallnacht“ 1938 (oder auch der Hinrichtung Robert Blums, des Abgeordneten der Paulskirche am 9. November 1848). Die Sequenz und Linearität verstärkt im Falle der Novemberrevolution eine Wahrnehmung, die selbst – unausgesprochen oder nicht – in eine retrospektive Logik gerückt ist. Das Reden von der Novemberrevolution und der Etablierung der Weimarer Republik ist immer schon vom Ende her gesehen. Die Novemberrevolution ist die „halbherzige“, die „gescheiterte“, die „verratene“ Revolution, die es nicht fertiggebracht hat, eine Republik zu etablieren, die den Anfechtungen der Radikalen, der Bürgerkriegsparteien standzuhalten vermochte. 1918 steht im Schatten von 1933, die Republik im Schatten des Scheiterns von Weimar. Was sonst auch mit der Weimarer Republik assoziiert werden mag – Aufbruch, neues Lebensgefühl, Moderne, die Goldenen Zwanziger, das Bauhaus, die Ufa, Fritz Langs Metropolis oder Döblins Berlin Alexanderplatz –, es kommt nicht an gegen die negative Wahrnehmung ex post. Die Republik bricht, so weiß man vorab, zusammen unter ihren Hypotheken, leidet an ihren Geburts- und Konstruktionsfehlern, und es scheint schier unmöglich, sich von diesem Mehr- und Besserwissen der Nachgeborenen frei zu machen und noch einmal anzusetzen bei der Erkenntnis: daß Geschichte offen ist, daß die Akteure des Jahres 1918 nicht wissen konnten, was wir wissen, und daß, was für uns Geschichte, abgeschlossene Vergangenheit ist, einmal Gegenwart war, Ernst Blochs „Dunkel des gelebten Augenblicks“, unabsehbar, unbestimmt, unübersichtlich, offen nach verschiedenen Richtungen.
   Die Flucht in eine Logik der Geschichte, in eine Teleologie, schien eine Art von Sicherheit zu bieten angesichts der schieren Unerklärbarkeit der von Deutschen begangenen Verbrechen. Aber vielleicht ist die unter dem Eindruck von Ende, Zusammenbruch und Nazi-Katastrophe stehende Wahrnehmung und Bewertung von Weimar an ihre Grenze gestoßen und macht sich nunmehr frei von der insgeheim unterstellten, oft auch explizit suggerierten Zwangsläufigkeit und Pfadabhängigkeit deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert, die alles – von Martin Luther angefangen – in Auschwitz münden läßt.



   EPOCHENWENDE

Nun begann die Revolution in München nicht am 9. November, sondern bereits am 7. November, zwei Tage vor den Ereignissen in Berlin, und dies allein verweist schon darauf, daß jedes Ereignis seine eigene Geschichte hat. Doch scheint sich hier zu wiederholen, was über die Novemberrevolution und die Weimarer Republik im allgemeinen gesagt wird: Die Stadt, in der noch vor der Ausrufung der Republik in Berlin die Monarchie gestürzt und der Freistaat Bayern und damit die Republik proklamiert worden ist, steht immer im Schatten jener Stadt, die fünf Jahre später zur „Hauptstadt der Bewegung“, also zum Geburtsort des deutschen Nationalsozialismus erklärt worden ist. Die Republik der idealistischen Literaten und Bohemiens kommt nicht an gegen den Realismus derer, die schon wissen, wie man eine Revolution richtig machen muß. Doch wer konnte in der Nacht des 7. auf den 8. November wissen, daß nur ein halbes Jahr später Freikorps und Reichswehr die Stadt besetzt haben würden? Daß die Revolution umschlagen würde in den Sieg der Gegenrevolution? Auch hier gilt: Historiker sollten sich, wenigstens für einen Augenblick, vom Privileg des Mehr- und Besserwissens verabschieden und das Risiko offener Situationen eingehen. 1918 – das war ein Ende, das Ende des Großen Krieges, und zugleich der Eintritt in eine radikal veränderte Welt, das Hinaustreten in eine offene Zukunft, die niemand kennen konnte.
   Sind wir hier und heute – ohne daß wir in die Falle der Analogie tappen sollten – nicht in einer vergleichbaren Situation: eines Epochenendes? 1989 war auch ein Augenblick, „nach dem nichts mehr so sein würde, wie es war“. Aber erst jetzt, wo es so gekommen ist, sind alle von tiefer Verunsicherung erfaßt. Es gibt zwar keine Analogie, aber doch eine Situationsverwandtschaft, die uns verunsichert und nachdenklich stimmt und also inspirieren könnte, besser in Erfahrungshorizonte hineinzufinden, die uns unendlich ferngerückt scheinen: in Nachkriegs- und Umbruchzeiten, die oft Zeiten fundamentaler Verunsicherung und nicht selten Vorkriegszeiten sind.

(…)

Die Münchener Ereignisse lassen sich nur verstehen, wenn man sie in den internationalen Kontext der Übergangszeit aus dem Weltkrieg rückt. Was in München geschieht, läßt sich auch anderswo beobachten. Alle scheinen Bewohner einer „Zeitheimat“ (Ilja Ehrenburg) zu sein. Am Ende des Großen Krieges ist alles offen, bis sich eine neue Ordnung herauskristallisiert hat. Man ist mit einer Situation beschäftigt, in der alles ineinander übergeht: Zusammenbruch und Neuanfang. Alles ist noch unentschieden, die Bilder der untergegangenen Welt sind noch lebendig, aber Bilder einer neuen Wirklichkeit dringen schon ein in die Köpfe, Befreiung von der Vergangenheit und Angst vor einer unsicheren Zukunft vermischen sich, richtig und falsch scheinen fast ununterscheidbar. Über Nacht bricht eine Welt zusammen, und doch gehen Routinen weiter. Ein Zustand großer Verunsicherung und noch größerer Utopiebedürftigkeit. Und selbst ein Mann wie Adolf Hitler auf dem Odeonsplatz weiß noch nicht, wem er sich anschließen soll, er, der Vertrauensmann des Arbeiterrates, der seine Kameraden später denunzieren wird.
München ist nicht der Mittelpunkt der Welt, aber ein Punkt auf der Landkarte einer Welt in schnellem Umbruch. In der Welt des Nachkriegs, in der alles ins Rutschen gekommen ist und die Erfahrungsschichten durcheinandergewirbelt werden: die Erinnerung an die heile Welt von einst – das Silberne Zeitalter, die Belle Époque, die Prinzregentenzeit; die Schockwellen des maschinisierten Krieges; die Todeserfahrung und Erschöpfung, der Zusammenbruch aller Autorität und allen Glaubens; zugleich Friedenssehnsucht und eine Zukunftserwartung, die sich ins Utopische steigert. Ein Ende der Imperien und ein Aufbruch in eine neue Staatenwelt. All das kommt zusammen. Wohin wir blicken – nach München, Petrograd, Moskau, Wien, Budapest, allenthalben begegnen wir einer Sprache, einem Tempo, die identisch sind, auch wenn sie nichts voneinander wissen. Die Rhetorik eines terroristischen Radikalismus im Namen der Menschheitsbefreiung. Ein Futurismus, der nach links oder rechts ausschlagen kann, à la Majakowski oder à la Marinetti. Ein Augenblick der Anomie und Anarchie, in dem den Künstlern alles erlaubt scheint: Dada, Agitprop, Wagnersches Gesamtkunstwerk. Der Krieg – das war der große Beschleuniger, der große Zerstörer, Bereiniger, Vereinheitlicher in der Erzeugung einer europäischen Nachkriegs- und Bürgerkriegslandschaft.

(…)

 

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.