LI 40, Frühjahr 1998
Selbsterregungskunst
Über die Verflüchtigung der Politik im deutschen KulturbetriebElementardaten
Textauszug
In diesem Beitrag ist von der "Kultur" die Rede. Nicht von dem philosophischen Problem einer vom Menschen geschaffenen Welt generell, auch nicht von der künstlerischen Tätigkeit, eine Klasse von Gegenständen erzeugend, welche die Disziplin der Ästhetik begründen. "Kultur" soll hier ein zeitweises und zeitbedingtes Phänomen genannt werden: das System der Subventionierung unterschiedlichster Kunstpraktiken und Kunstgattungen durch die öffentliche Hand. Gemeint ist ihre Förderung im Rahmen von Organisationen und Betrieben, konkret der Opern und Staatstheater, der Orchester und Museen, der Akademien, Preise und Schriftstellerstipendien. Kultur heißt hier das für die Bundesrepublik so prestigeträchtige Netz von apparativen, administrativen und kameralistischen Austauschbeziehungen, die zugleich von einem ebenso sinnfälligen Komplex öffentlicher Kommunikation über diese Kultur begleitet werden. Beide Phänomene haben einen gesellschaftlichen Bereich mit eigenem Selbstverständnis und eigener Ideologie entstehen lassen.
Dieser Bereich, den der Jargon der Insider "Kulturbetrieb" nennt und umfaßt, was allgemein als "Hochkultur" bezeichnet wird, war seit seinen Anfängen auf Expansion angelegt; in den Achtzigern hat er seine Blütezeit erlebt. Dem Beitrag liegt die Überzeugung zugrunde, daß die öffentlich geförderte Kultur den Zenit ihrer Geltung überschritten hat, daß sie inmitten eines Modernisierungsgeschehens, das gegenwärtig eine internationalisierende Ökonomie und ein nach wie vor deregulierend wirkender Staat vorantreibt, in die Defensive gedrängt wird, ja ein Stück weit historisch geworden ist.
Erst jetzt treten ihre Züge hervor, erst jetzt löst sich auch das Geflecht bundesrepublikanischer Selbstverständlichkeiten auf, in das sie eingebettet war. Das begünstigt die Erkennbarkeit: Kultur vermag nicht mehr ihre modernitätskompensatorischen Aufgaben von einst zu erfüllen. Sie war ihrer Idee nach auf Kongruenz mit einem gerichteten und kontrollierten Prozeß der Modernisierung angelegt. Diese Parallelitätsidee, so zeigt sich heute, war eine Erfindung der siebziger und achtziger Jahre und ruhte sozialwissenschaftlichen Vorstellungen vom Wesen "der Gesellschaft" und von "der Öffentlichkeit" auf. Heute wird man über diese Vorstellungen kaum noch Einmütigkeit erzielen. Es ist sogar zu vermuten, daß ein Gleichklang von Kulturalisierung und Modernisierung schon seit gut zehn Jahren, seit eine angebotsorientierte Wirtschafts- und eine gemäßigt monetäre Finanzpolitik der Gesellschaft Veränderungsdynamik entzogen und diese im Ökonomischen gebündelt haben, eine Illusion war. Dieser Optimismus konnte nur fortwirken, weil sozialstaatliche und korporatistische Traditionen der alten Bundesrepublik als unantastbar galten.
Ausgelöst durch Diskussionen über den Anteil des Staates am Gesamt der erwirtschafteten Güter und Dienstleistungen und von Debatten über die Höhe der Staatsverschuldung, ist der Druck auf die (kulturtragenden) Länder und Gemeinden inzwischen so angewachsen, daß erstmals von "Rückbau" des Kulturellen die Rede ist. Unter Rückbau-Bedingungen wird Kultur zu einem retardierenden Faktor im Modernisierungsgeschehen. Sie muß unweigerlich in Konkurrenz zu ihm treten, wo dieses sich andere Orte der Manifestation innerhalb der symbolischen Ordnung sucht. Damit ist gemeint: Ein Ausgleich der Nebenfolgen der Modernisierung wird heute auf anderen Feldern virulent, in der Politik, wo um Maßnahmen zur Belebung des Arbeitsmarktes gestritten wird, in der Wirtschaft selbst, an die appelliert wird, sie möchte für die Eindämmung der eigenen Dynamik sorgen. Von der Illusion entlastet, selbst ein Motor der Modernisierung zu sein, tritt Hochkultur am Ende der Sozialstaatsepoche als das hervor, was es immer war, seit sie Anfang der Siebziger den Status eines gesellschaftlichen "Projektes" erhielt: System der Vermittlung von Werten, von Kulturwerten.
Es mag inspirierend sein, in Übergangsphasen zu leben. Doch nötigen Umbrüche dem Einzelnen meist so große innere Beteiligung ab, daß kaum jemand in den Genuß reiner, interesseloser Zeugenschaft gelangt. Alles existiert zugleich. Indem der Spuk eines umfassenden geschichtlichen Fortschritts vom Denken abgefallen ist, müssen sich auch die Rückständigen nicht diskreditiert fühlen, denn jeder hat auf seine Weise Recht. Günter Grass lebt in einer anderen Zeit als Peter Handke oder Botho Strauß. Was öffentliche Anerkennung findet, ist häufig eine Frage kurzfristiger, brüchiger Konsensbildungen, die die ganze Gesellschaft nicht mehr erreichen. Die Kulturwerte sind strittig, die Fürsprecher von Handke und Strauß zählen sich heute unter ihre unversöhnlichen Gegner. Wer glaubt noch im Ernst, daß in den Theatern sich so Bedeutsames ereigne, daß es einer nationalen Öffentlichkeit zur Kenntnis gebracht werden muß, damit es dort Kontroversen auslöse? Nicht nur über das, was im Kulturbetrieb verhandelt wird, ist kein Konsens mehr zu erzielen - was das Kulturelle selbst sei und was sein Zweck, nicht einmal das ist mehr selbstverständlich: Neuerfindung der Figur des weltdistanziert-grübelnden Dichters oder Wahlkampf für die SPD?
Institutionen, behauptet die Soziologie, existieren in ihrer eigenen, besonderen Zeit. Individuen erklären sich heute zu Institutionen, indem sie ihre einstige Rolle im Kulturbetrieb nach Kräften dramatisieren und damit eine Zone des Rechthabens um sich abstecken. Das ist die derzeit erfolgversprechendste Form der intellektuellen Selbstbehauptung: seine Geltungsansprüche auf eine Zeit zu beziehen, in welcher die eigene Rede (angeblich) einmal ungeheure soziale Kraft besaß. Meistens ist dies eine imaginäre Zeit, und die eigene Lebensgeschichte wird darin gleichsam zu immerwährender Gegenwärtigkeit genötigt. Auch die Kultur probt heute den Selbsterhalt, und ihre Strategie ist entsprechend: Auch sie nutzt ihre "Biographie", ihre Aufstiegsgeschichte im Gefüge der Bonner Republik, idealisiert ihre Funktionalität im Rückblick, um ihre Unverzichtbarkeit für die Zukunft unter Beweis zu stellen. Die institutionelle Eigenzeit ist auch im Fall der Kultur das Produkt einer Fiktionsbildung. Sie entspricht dem Bild, das Kultur im Lauf der Zeit von sich entworfen hat und das sie nun mit der Kraft ihrer langjährigen betrieblichen Daseinsschwere normativ wendet.
Der Ausbau der subventionierten Kultur zu einem gesonderten gesellschaftlichen Teilbereich war vermutlich das ambitionierteste Projekt des verteilungswilligen Staates unter einer sozialdemokratischen Regierung zwischen 1969 und 1982 gewesen. Das für diese Zeit bestimmende gesellschaftliche Klima strahlte auf Länder und Kommunen ab, die zum größten Teil die Trägerinnen aufwendiger kultureller Einrichtungen sind. Daß eine nachhaltige Institutionalisierung von Kultur ein Politikziel sei, möglicherweise sogar ein vordringliches, gerann zu einer Überzeugung, die bald keine Parteiengrenzen mehr kannte.
Die Gestalt des Kulturprojektes prägte zweierlei: Resistenz gegenüber dem Zugriff der Politik, deren Einflußmöglichkeiten weiteehend auf Etatbewilligung beschränkt blieb, sowie eine Ausrichtung auf die publizistische Sphäre, in Gestalt der Kritik zumal, die für das Kulturelle einen Geltungsanspruch weit übers Ästhetische hinaus geltend machte. Befeuert durch Theorien künstlerischer Autonomie von Schiller bis Adorno, integrierte sich der Kulturbetrieb durch Differenzmarkierungen: gegenüber einer seit der Kanzlerschaft Helmut Schmidts als gescheitert angesehenen Reformpolitik sowie gegenüber einer Marktwirtschaft, die tiefer und tiefer in die Lebenswelt der Westdeutschen eindrang, nachdem sich gezeigt hatte, daß sich emanzipatorische Unruhe in neuen Konsumbedarf verwandeln ließ.
Der Kontrast zu Realpolitik und Markt ist keiner, der eine besondere ontologische Qualität des Ästhetischen definierte; er ist eine des Wertes. Der Wert des Kulturellen wurde ausgezeichnet durch die Selbstinszenierung des Kulturbetriebes, qualifiziert wurde er durch den Umstand, daß Kultur eine Reaktionsbildung des linksliberalen Milieus war, das seine utopischen Hoffnungen und Phantasien in expandierender "Kulturindustrie" und in einem erfolgreich verwirklichten sozialdemokratischen Sozialstaatsprojekt verblassen sah. Das Konglomerat aus undogmatischem Marxismus, später Bildungsbürgerlichkeit und Moralismen aller Art suchte sich in der Sphäre der Künste eine Heimstatt. Man kann sagen: Der Marsch durch die Institutionen des Kulturbetriebs hat die revolutionären Energien der nachmaligen Theaterprinzipale und Kulturdezernenten in rationales Verwaltungshandeln sublimiert. Daneben schuf sich der Betrieb seine eigene Öffentlichkeit in einem Rezensionswesen, das hinter den Dingen der Kunst auch immer eine substantiellere Idee von der Gesellschaft, ja eine Vorstellung vom richtigen Leben sichtbar machen wollte. Kritik konnte sich als die ausgelagerte Instanz zur Infragestellung der bundesrepublikanischen Lebensordnung begreifen, als letzter Standort geistiger und moralischer Unabhängigkeit.
Als der böse, scharfzüngige Brite Wyndham Lewis einmal von der "großen propagandistischen Nebenhandlung, genannt KULTUR" sprach, hatte er den quasi-politischen Kern der Selbstaufwertung des Kulturellen genau benannt. Die kulturalisierte Version des Ästhetischen war eine trotzige politische Option in der Verkapselung. Jedoch so, daß auch ihre glühendsten Verfechter wußten, daß sie niemals realiter politisch werden würde. Anstatt Politik eröffnete sie Teilhabemöglichkeiten am System kultureller Kommunikationsbeziehungen. Kultur war die neue moralisch legitime Praxis. Die Utopie, die um die Hoffnung auf unmittelbare Verwirklichung verkürzt wurde, war nun ein Aggregat des Unerfüllten. Das Uneingelöste fand in Theaterstücken und Poesien bildhaften Ausdruck; es harrte in jedem Einzelfall der Übersetzung in ein Erinnerungszeichen des Traums von einer besseren Gesellschaft. Das Quasi-Politische realisiert sich nicht in der Zeit, sondern in dauernder Wiederholung. Kultur stiftet den Raum, in dem das Utopische im Wechselspiel von metaphorischem Rätsel und diskursiver Lösung als dauernde Verschiebung ihrer chiliastischen Versprechen gegenwärtig gehalten wird.
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