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Cover Lettre International 65, Dennis Gün
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LI 65, Sommer 2004

Europas Liebesneigung

Zur politischen Geschichte eines Gefühls

Europa und die Liebe – was für eine verrückte Perspektive, was für eine Donquichotterie. Denn wo, wenn nicht in diesem Europa bis in die jüngste Zeit, sehen wir etwas anderes als dauernde Auseinandersetzung, ja ganze Kriegsepochen, wie die beiden dreißigjährigen Kriege im 17. und im 20. Jahrhundert, als der europäische Krieg zum Weltkrieg mutiert; woher, wenn nicht aus dem neueren Europa, kennen wir sonst Vernichtungen ganzer Völker, Städte und Landschaften, zu schweigen von der Verwüstung aller Moralbegriffe. Was hätte dieses Europa mit Liebe zu tun – will man nicht gleich, statt an den Don Quichotte, an den griechischen Gründungsmythos erinnern, an die Geschichte von Europa und dem Stier. Jene Geschichte, die alles umfaßt, was uns teuer ist: weise Staatsführung (unter Minos), Perversion (der Minotaurus), Technik und Tragödie (Dädalus und Ikarus), Kunst und List (das Labyrinth und der Faden der Ariadne) und, alles folgende grundierend: der brutale Zwang zur Liebe (Zeus als Stier, der Europa entführt).

Richtig: Es gab, nach dem Wort des Novalis, das Europa der Christenheit. Gerade die Kriege in Christi Namen wollten fast 400 Jahre lang dieses Reich unter die göttliche Liebe zwingen. Zu schweigen von den späteren Eiferern, die das Evangelium nach Afrika und nach Asien, zu Indianern und Eskimos trugen. Um welche Liebe ging es dabei? Um Gottes Liebe zum Menschen, mit einem Menschenopfer im Hintergrund? Eigentlich keine schöne Vorstellung, will man nicht doch die christliche Solidarität als Erbschaft aus diesem Opferwerk anerkennen. Oder ging es um Liebe zwischen Ehepartnern, die unter christlicher Anleitung ihre traditionellen Heiratsregeln aufgeben sollten? Auch keine schöne Vorstellung, jedenfalls für uns heute nicht mehr. Schon erheben sich Stimmen, welche die Traditionsheirat loben, weil diese mit Kinderreichtum einhergeht, während die europäische Selbstliebe, in Verbindung mit Bildung und angewandt aufs weibliche Geschlecht, sterilisiert.

Europa als aufdringlicher und zweischneidiger Liebesexporteur ist aber nur die halbe Geschichte. Es gab auch innereuropäische Motive. Denn richtig ist: Wo viel Krieg herrscht, muß auch beständig Frieden geschlossen werden, andernfalls kein neuer Krieg zu eröffnen wäre. Und so ist die europäische Geschichte auch eine Geschichte dauernder Friedensschlüsse – die große Ausstellung von Marie-Louise von Plessen im Deutschen Historischen Museum zu Berlin im Jahre 2003 hat es gebührend gezeigt. Wer es noch nicht wußte, konnte es hier lernen: Schon vor 1700 schwärmte ein designierter Amerikaner von einem Verfassungsfrieden in Europa. Kein geringerer als William Penn, der Begründer des Staates Pennsylvania, meinte im Jahre des Herrn 1693: „Nun sollen die souveränen Fürsten von Europa ... aus dem gleichen Grunde, der die Menschen zuerst zu einer menschlichen Gesellschaft zusammenschloß, nämlich aus Liebe zum Frieden und zur Ordnung, übereinkommen, durch ihre Bevollmächtigten in einem gemeinsamen Reichstag oder Staatenhaus oder Parlament sich zu treffen und dort Rechtsbestimmungen festzusetzen für die souveränen Fürsten, die sie wechselseitig halten müßten."

Doch erst rund hundert Jahre später brachte Napoleons Familienliebe so etwas wie ein geeintes Europa zustande, Zwischenspiel einer ersehnten Konstellation mit juristischen Folgen – dem Code Napoléon –, aber mit der bekannten nationalistischen Reaktion. Die Hoffnung blieb dennoch. Ein paar Dekaden später nahm sie den begeisterten Victor Hugo in Dienst: „Wir errichten diese großen Vereinigten Staaten von Europa, die die Alte Welt krönen werden, so wie die Vereinigten Staaten von Amerika die Neue Welt krönen. Wir werden den Eroberungsgeist in Entdeckergeist umwandeln, wir werden die großzügige Brüderlichkeit der Nationen pflegen statt die entsetzlichen Bruderschaften der Kaiser; wir werden ein Vaterland ohne Grenzen haben, einen Staatshaushalt ohne Schmarotzertum, Handel ohne Zoll, Zirkulation ohne Kasernierung, Mut ohne Kampf ... Die schreckliche Strangulierung der Zivilisation wird beendet sein, der furchtbare Isthmus, der die beiden Meere der Menschheit und der Glückseligkeit trennt, wird zerteilt. Auf die Welt wird eine Lichtwelle treffen. Und was ist dieses Licht? Es ist die Freiheit. Und was ist diese Freiheit? Es ist der Friede."

Victor Hugo konnte nicht ahnen, was für ein schrecklicher Krieg die Europäer erwartete. Auch Hugos berühmtester deutscher Erbe, Heinrich Mann, wollte bei seiner ersten Europarede von 1916 nicht ahnen, was aus dem Ersten Weltkrieg folgen würde. Noch in der Weimarer Republik trug er die Fackel der Begeisterung weiter. Wie zur Kompensation von erlebter Grausamkeit transformierte er Hugos Friedenslicht in Liebe: „Zweck des sich gründenden Europas ist nicht Krieg und nicht Haß. Es ist Sicherheit und gemeinsames Gedeihen, größere Freiheit des Körpers und der Seele, als die eingeengten, aus Not tyrannischen Einzelstaaten gewähren können. Es ist Wiedervereinigung derselben Kraft, die zerrissen war, desselben Menschentums, das endlich ganz werden will. Es ist nicht Haß, eher Liebe."

Nun ja, also nicht mehr Liebe zu Gott und nicht mehr Liebe zu einer Dynastie und vor allem nicht mehr: Liebe zur Nation. Die maligne Überschwenglichkeit ist gewichen, übrig bleibt eine kleinbürgerliche Schwundstufe, die doch unmittelbar nach 1918 das wichtigste war: Liebe zur Sicherheit und zum Gedeihen, Liebe zu Frieden und Ordnung. Nur: Was hat das mit der ganz normalen Liebe zu tun, mit diesem privatesten und widerspenstigsten aller Gefühle, dieser innigsten Verkehrsform zwischen zwei Leuten und nur diesen beiden?
Also ein zweiter Anlauf. Europa und die Liebe: ein mindestens kompliziertes Thema, zugleich aber auch ein herrliches. Kompliziert für die Selbstwahrnehmung, weil es doch Liebe zwischen Du und Ich überall gibt, in jeder Kultur, auf jeglichem Kontinent, in allen Sprachen und Hütten. Und weil dadurch die Liebe – auch die bezahlte – zwischen die Länder fällt, zwischen die Sprachen und Kulturen, übrigens gerade im Feld der Prostitution. Aber auch ungezählte bürgerliche Paare verbinden in ihrer Person Europa und den Orient, altes Europa mit jungem Amerika, fast jede Hautfarbe mit jeder, zu schweigen von den vielen Ehen in Binneneuropa, die sich nicht in einem „Europäisch" treffen können wie die Amerikaner in einem „Amerikanisch", sondern unterschiedliche Sprachen fordern. Überall hier wird mikropolitische Denk- und Gefühlsarbeit geleistet (und genossen!), deren Bedingungen noch längst nicht erforscht und deren Erfolge nie wirklich gewürdigt werden.

Eine dieser Bedingungen ist der Diskurs über die Liebe selber. Herrlich ist er gleich auf den ersten Blick für die europäische Selbstliebe, denn tatsächlich hat kein Kontinent so große, so viele und so wunderbar reflexive Textmengen über die Liebe hervorgebracht wie der europäische. Was wir jenseits der Belletristik etwa aus Indien oder China kennen, sind entweder Werke zur taoistischen Praxis oder aber zur Kunst der Liebesverkehrsstellungen wie das Kamasutra. Doch haben sie, wie auch die mittelalterlichen Traktate der arabischen Mystik, ihre intellektuelle Leuchtkraft in der Moderne weitgehend verloren.

Was aber mag der Grund für die ausufernde Liebesliteratur bei uns sein, angefangen von Platons Symposion bis hin zu Roland Barthes' berühmten Fragmenten einer Sprache der Liebe oder des Systemphilosophen Luhmann Traktat über die Liebe als Passion? Was hat uns getrieben von den Korintherbriefen des Paulus über die Eingebungen der heiligen Hildegard bis zu den Weisheiten der Liebe bei Emmanuel Lévinas? Warum mußte die bulgarische Psychoanalytikerin mit Sitz in Frankreich, Julia Kristeva, zu Beginn der achtziger Jahre plötzlich die philosophisch-literarische Geschichte der Liebe im Abendland rekonstruieren, warum der Philosoph Paul Ricœur über Liebe und Gerechtigkeit dozieren? Könnte das Projekt der europäischen Einigung von alldem motiviert sein oder sogar irgendwie profitieren? Ja, durchaus, sagt die italienische Historikerin Luisa Passerini, aber nur, wenn dieser Diskurs seine eurozentrischen Beschränkungen aufgibt, wenn der missionarische Furor verschwindet und wirklich Liebe im Sinne von radikaler Exogamie in die Konstruktion einer europäischen Identität eingeht.

(...)

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