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LI 116, Frühjahr 2017

Martin Luther

Von der Heilsbotschaft in Volkes Sprache zum Neuhochdeutschen

(…)


Ein wesentlicher Impetus für den an der Universität lehrenden Professor Luther, sich von der Gelehrtensprache Latein abzuwenden, war ein deutsches Traktat mystischen Inhalts eines anonymen Deutschordenspriesters aus dem 14. Jahrhundert gewesen, welches Luther dann 1516 unter dem Titel Eine deutsche Theologie drucken ließ. In seinem Vorwort dazu bekannte er, daß ihn keine andere Schrift – außer der Bibel und Augustinus – mehr über die christliche Religion und die Menschheit gelehrt habe und daß er es dem einfachen deutschen Vokabular darin verdanke, „seinen Gott in der deutschen Zunge zu hören und zu finden“.
Der didaktische Impuls Luthers richtete sich somit bald darauf, die Bibel dem „gemeinen Mann“ nahezubringen. Realisiert wurde dies erstmals in der 1518 veröffentlichten Übersetzung Die sieben Bußpsalmen, die „nicht für gelehrte Geister, sondern für die Ungebildeten herausgegeben“ wurden. Als Luther 1520 aufgrund seiner reformatorischen Tendenzen (und einer von ihm veranlaßten Bücherverbrennung päpstlicher Literatur in Worms) mit dem Reichsbann belegt wurde und Friedrich der Weise ihn deshalb auf der Wartburg in Schutzhaft nahm, begann er in seiner Isolation mit der Übersetzung der Bibel. In elf Wochen entstand dort seine Übertragung des Neuen Testaments, die gerade noch rechtzeitig für die Frankfurter Messe 1522 gedruckt werden konnte (und in Folge als „September-Testament“ bekannt wurde). Die Startauflage war hoch für ein Buch – 3 000 Stück –, konnte aber durch den Erfolg der Flugschriften riskiert werden; der Stückpreis betrug einen Gulden, was dem Marktpreis eines Kalbes oder zwei Monatsgehältern eines Schulmeisters entsprach.
Danach folgten in weiteren Installationen, welche das Investitionsrisiko gering hielten, die einzelnen Abschnitte des Alten Testaments, die jeweils mehrfach überregional nachgedruckt wurden. Insgesamt erschienen derart ab 1522 erstaunliche 443 Teil- und Gesamteditionen der Bibel, deren Ausgabe letzter Hand mit Luthers Tod 1545/46 vorlag: sie wurde allein in Wittenberg einhunderttausendmal gedruckt, im Rest des deutschen Sprachraumes in Lizenz oder als Raubdruck weitere fünfhunderttausendmal.  (…) Seine Übersetzungsmaxime berief sich generell auf die Lehre der deutschen Schulmeister, „daß nicht der Sinn den Worten, sondern die Worte dem Sinn dienen und folgen sollen“. Was Luther damit zum Ausdruck brachte, ist ein modernes Verständnis von linguistischer Pragmatik: Ein und derselbe Sinn wird je nach Sprache und Kultur anders ausgedrückt, wobei die Worte nur Vehikel darstellen, über welche eine Idee vermittelt werden soll. Dazu muß der Wortlaut eines Ausgangstextes zunächst hinterfragt und interpretiert werden – um darauf in der Zielsprache ein möglichst wirkungsgleiches Äquivalent zu suchen. Einen in Psalm 68 im hebräischen Wortlaut „fett“ genannten Berg übersetzt Luther deshalb mit „fruchtbarer Berg“: „Weil wir im deutschen auch ein gut fruchtbares Land ein fettes Land und eine Schmalzgrube nennen, ohne daß sie mit Schmalz geschmiert sei oder von Fettem triefe“. Und aus dem „gehügelten“ Berg macht Luther einen „großen Berg“, weil bei einem solchen doch „viele Hügel aneinander und immer einer über den anderen, bis auf den höchsten Hügel“ sind. Das heißt, daß nach der philologischen Erschließung eines Textes der Vorgang des Verdolmetschens einsetzt, der auch auf spezifische Sprechsituationen eingeht: Reden oder Predigten sollen auch im Deutschen als Reden und Predigten wirken können.
Dementsprechend übersetzte Luther einen lateinischen Satz aus Paulus’ Brief an die Römer mit „Wir halten, daß der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werk, allein durch den Glauben.“ Damit fing er sich den Unmut der Papisten ein, weil in der Vulgata das Wort „sola“ („allein“) nicht zu finden ist. Luther führte als Verteidigung gegen diese „Eselsköpf“ an, daß ein verstärkendes „allein“ in der lateinischen und griechischen Sprache nicht üblich ist, sehr wohl jedoch im Deutschen: „Denn obwohl man auch sagen kann ‘der Bauer bringt Korn und kein Geld’, so klingt das Sprichwort doch nicht so vollständig und deutlich, wie wenn ich sage ‘Der Bauer bringt allein Korn und kein Geld’; und dabei hilft das Wort ‘allein’ dem Wort ‘kein’ so viel, daß daraus eine völlig deutsche, klare Rede wird. Denn man muß nicht die Buchstaben in der lateinischen Sprache fragen, wie man Deutsch reden soll, wie diese Esel es tun – sondern man muß die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gasse, den gemeinen Mann auf dem Markt dazu befragen und ihnen auf das Maul sehen wie sie reden und danach dolmetschen: so verstehen sie es denn und merken, daß man Deutsch mit ihnen redet“.
Es lag Luther also daran, Gedanken des Originals in der Zielsprache mit einer passenden Idiomatik zu präsentieren; nicht um identische, das heißt wortwörtliche Entsprechungen ging es ihm, sondern um analoge Ausdrücke, mit denen sich die Wirkungsäquivalenz eines Gedankens erhalten ließ. Nur wo dies nicht möglich war, wie im 19. Vers des Psalmes 68, hielt Luther sich an die Ausdrucksweise des Originals: „Du bist in die Höhe gefahren und hast das Gefängnis gefangen“ – hier wäre wohl „Du hast die Gefangenen erlöst“ gut Deutsch gewesen, aber es ist zu schwach und gibt nicht den feinen reichen Sinn wieder, der im Hebräischen steckt, das sagt: Du hast das Gefängnis gefangen – was nicht allein zu verstehen gibt, daß Christus die Gefangenen befreit hat, sondern zugleich auch das Gefängnis abgeführt und gefangen hat, „damit es uns selbst nimmermehr weder fangen kann noch soll“.
Im übrigen hält Luther den „Klügelingen“ vor, die ihn wegen seiner Abweichungen vom Wortlaut „meistern und vielleicht auch etliche Fromme sich dran stoßen: Was bringt es denn, die Worte ohne Not so steif und streng zu halten, daß man daraus nichts verstehen kann? Wer deutsch reden will, der muß nicht der hebräischen Worte Weise führen, sondern muß darauf sehen, wenn er den hebräischen Mann versteht, daß er den Sinn fasse und sich also denken: Lieber – wie redet der deutsche Mann in solch einem Fall? Wenn er nun die deutschen Worte hat, die hiezu dienen, so lasse er die hebräischen Worte fahren und spreche frei den Sinn heraus, im besten Deutsch zu dem er fähig ist.“ Jedesmal, wenn ich das lese, muß ich lachen – weil Luther damit nicht nur anschaulich die Technik des literarischen Übersetzens beschrieben hat, sondern auch – wie in meinem Fall bei der Ilias – die Reaktion der gräzistischen Klügelinge, die sich daran stießen, daß ich mich nicht streng an den Wortlaut gehalten habe, obwohl man erst dadurch dem Original treu zu bleiben vermag.
Doch schaute Luther dafür wirklich der Mutter zu Hause in Wittenberg, den Kindern in der Gasse und dem gemeinen Mann am Markt aufs Maul? Nicht nur. Denn für seine Übersetzung schuf er aus Umgangssprachlichem und ersten vereinheitlichten Formen des Schriftdeutschen eine eigene überregionale Kunstsprache, die es vorher so nicht gegeben hatte.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.