LI 133, Sommer 2021
Il Maestro Fellini
Eine rauschhafte Liebe zum Film – Wilde Träume und die Magie des KinosElementardaten
Genre: Erinnerung, Essay, Hommage
Übersetzung: Aus dem Englischen von Michael Kellner
Textauszug: 4.061 von 31.336 Zeichen
Textauszug
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In den Sechzigern wurde aus Federico Fellini mehr als ein Filmemacher. Wie Chaplin und Picasso und die Beatles war er viel größer als seine Kunst. An einem bestimmten Punkt ging es nicht mehr um diesen oder jenen Film, sondern alle seine Filme, wie eine große Geste, die quer über die gesamte Milchstraße geschrieben stand. Einen Fellini-Film zu sehen war wie ein Konzert der Callas besuchen oder einen Auftritt von Olivier, oder Nurejew tanzen zu sehen. Seine Filme verleibten sich sogar seinen Namen ein – Fellinis Satyricon, Fellinis Casanova. Das einzig vergleichbare Beispiel im Film war Hitchcock, aber das war etwas anderes: eher wie eine Marke, ein Genre seiner selbst. Fellini war der Virtuose des Kinos.
Inzwischen sind es fast dreißig Jahre, daß er von uns gegangen ist. Die Zeit, als sein Einfluß die gesamte Kultur zu durchdringen schien, ist längst vergangen. Und deshalb ist auch Criterions Box Essential Fellini, die letztes Jahr zu seinem hundertsten Geburtstag herauskam, mehr als willkommen.
Fellinis absolute visuelle Meisterschaft setzte 1963 mit dem Film Achteinhalb ein, in dem die Kamera im Einklang mit den schwankenden Stimmungen und geheimen Gedanken von Fellinis Alter ego Guido, den Marcello Mastroianni spielt, zwischen innerer und äußerer Realität schwebt und fließt und hin und her gleitet. Ich sehe mir Stellen in diesem Film an, den ich häufiger gesehen habe, als ich zählen kann, und frage mich immer wieder: „Wie hat er das bloß gemacht?“ Wie kommt es, daß jede Bewegung und Geste und jede Windböe wie von selbst einen Sinn ergibt? Wie kommt es, daß sich alles so außergewöhnlich und unausweichlich wie in einem Traum anfühlt? Wie kann jeder Augenblick so voller unerklärlicher Sehnsucht sein?
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Achteinhalb ist ein aus Fellinis Träumen gewobener Teppich. Wie in einem Traum scheint auf der einen Seite alles sicher und festgelegt, auf der anderen aber fließend und vergänglich; der Ton wechselt immer wieder, manchmal gewaltsam. Er schafft tatsächlich einen visuellen Strom des Bewußtseins, der den Betrachter in einem Zustand von Überraschung und Aufmerksamkeit hält, und eine Form, die sich laufend selbst neu definiert.
Im Grunde genommen dreht Fellini Filme vor unseren Augen, denn der kreative Prozeß ist die Struktur. Manche Filmemacher haben sich in dieser Richtung versucht, aber ich glaube nicht, daß auch nur einem annähernd das gelungen ist, was Fellini hier erreicht hat. Er hatte die Kühnheit und das Selbstvertrauen, mit jeder Art von kreativem Werkzeug zu spielen, die plastischen Qualitäten des Bildes zu erweitern, bis alles auf irgendeiner unbewußten Ebene zu existieren schien.
Selbst die scheinbar neutralen Bilder haben bei näherem Hinsehen einige Elemente in der Beleuchtung oder der Komposition, die einen umwerfen, die auf irgendeine Art von Guidos Bewußtsein durchdrungen sind. Nach einer Weile hört man auf, herausfinden zu wollen, ob man sich in einem Traum befindet, im Flashback oder schlicht in der Realität. Man möchte sich verlieren und mit Fellini umherziehen, sich der Macht seines Stils überlassen.
In einem der Höhepunkte des Films trifft Guido den Kardinal im Dampfbad, eine Reise in die Unterwelt auf der Suche nach einem Orakel und eine Wiederkehr zu dem Lehm, dem wir alle entstammen. Wie im gesamten Film ist die Kamera ständig in Bewegung – rastlos, hypnotisch, fließend, immer das Unausweichliche ertragend, etwas offenbarend. Während Guido hinabsteigt, sehen wir von seiner Warte aus eine Reihe von Menschen, die sich ihm nähern, manche, die ihm Ratschläge geben, um sich beim Kardinal einzuschmeicheln, andere, die ihn um einen Gefallen anflehen. Er betritt einen mit Dampf gefüllten Vorraum und geht auf den Kardinal zu, dessen Bedienstete ein Musselinlaken hochhalten, hinter dem er sich auskleidet – nur sein Schatten ist zu sehen. Guido sagt dem Kardinal, daß er unglücklich sei, und der Kardinal antwortet, einfach, unvergeßlich: „Warum solltest du glücklich sein? Das ist nicht deine Aufgabe. Wer hat dir gesagt, daß wir auf die Welt gekommen sind, um glücklich zu sein?“
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