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Cover Lettre International 59, Bernd Koberling
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Inhaltsverzeichnis

LI 59, Winter 2002

Postklassische Kriege

Staatszerfall und Gewaltepidemien in Schatten der Globalisierung

Eberhard Sens In den postkolonialen Befreiungskriegen, die jetzt schon eine Zeit zurückliegen, wurde oft im Namen einer nationalen Selbständigkeit gekämpft; politische Rebellionen fanden statt, Guerillakriege wurden geführt. Dieses politische Befreiungselement der vierziger, fünfziger und sechziger Jahre scheint in den Hintergrund getreten zu sein.

Herfried Münkler Die Kriege der Phase der Entkolonisierung sind Staatenbildungskriege gewesen, in dem einzelne Territorien aus einem französischen, englischen, portugiesischen oder spanischen Kolonialgebiet herausgelöst worden sind. Dagegen sind die Kriege, die wir heute vor Augen haben, Staatenzerfallskriege. Es ist, aus einer Reihe von Gründen, diesen neu entstandenen Staaten vielerorts nicht gelungen, eine robuste Staatlichkeit zu schaffen und korruptionsresistente Eliten herauszubilden, die das Vertrauen der Mehrheit der Bevölkerung gewinnen konnten. So können die Warlords relativ leicht politisches Kapital sammeln, indem sie zum Beispiel sagen, dieser Stamm sei unterdrückt, sie wollten für seine Gleichberechtigung und Besserstellung kämpfen; oder dieser Präsident sei korrupt und müsse gestürzt werden; auf diese Weise gewinnen sie relativ leicht Anhängerschaft.

Die Figur des Warlords repräsentiert pure Korruption und reine Bereicherungsgier.

Das kann man sagen. Es ist in einzelnen Fällen nicht auszuschließen, daß ein Warlord später einen stabilen Staat gründet, so wie ja auch einige zeitweilige Terroristen unter günstigen Konstellationen Staatsgründer geworden sind, im Nahen Osten beispielsweise; dies ist bei den Warlords in der Regel nicht der Fall, weil sie die Voraussetzungen zur Errichtung einer stabilen Staatlichkeit durch ihr eigenes Tun zerstört haben. Wo sie gewirkt haben, läßt sich nichts mehr in dieser Weise herstellen, jedenfalls nicht durch eigene Kraft, allenfalls durch eine Intervention von Nachbarmächten, die zunächst einmal die Gewaltoption in dem Gebiet beendet.

Entstaatlichung, sagten Sie, ist das eine zentrale Merkmal. Gegenüber der klassischen Phase der Kriege tritt der Staat als Monopolist des Krieges zurück.

Das ist dadurch möglich, daß diese Kriege asymmetrisch sind. Das ist ein weiteres wichtiges Merkmal der neuen Kriege. Sie werden nicht geführt von Bewaffneten gegen Bewaffnete derselben Art, sondern in hohem Maße gegen Zivilisten. Man braucht also nicht teuer ausgerüstete und entsprechend disziplinierte Truppen, die auch unter Kampfbedingungen über längere Zeit standhalten, sondern eine marodierende Soldateska fällt über Dörfer und Städte her. Immer über die Schwächsten: Gewalt gegen Frauen, insbesondere aber auch gegen Kinder und gegen Alte, ist zur Signatur dieser neuen Kriege geworden. Als drittes Merkmal kommt hinzu – das klingt etwas paradox – die Entmilitarisierung des Krieges. Nicht mehr das Militär dominiert die Form der Gewaltanwendung, sondern es sind Paramilitärs, worunter sich Unterschiedliches verbirgt: von der bewaffneten Mafia bis hin zum menschlichen Strandgut dieser Kriege; elternlose Kinder zum Beispiel, die von einem Warlord mit Drogen und Waffen ausgestattet und auf Zivilbevölkerung losgelassen werden; diese Kämpfer werden nicht mehr Prozessen der Disziplinierung unterworfen und unterstehen auch nicht einem strikten Kriegsrecht wie klassische Soldaten. Nirgendwo wird Vergewaltigung so hart bestraft wie im klassischen Kriegsrecht; in der Regel steht darauf Erschießen. Wenn nicht erschossen wird: hohe Zuchthausstrafen – anders als im zivilen Bereich. Dies geschieht, um den gesteigerten Möglichkeiten der Gewaltanwendung von Männern gegen Frauen, dem Ausleben sexueller Phantasien, dem Einmischen von Sadismen der unterschiedlichsten Art Grenzen zu setzen. Denn der Krieg oder die exzessive Gewalt ist etwas, das all das transportiert. Der klassische Krieg unterdrückte dies durch scharfe Sanktionen; in den neuen Kriegen ist das nicht der Fall. Eine Begleiterscheinung dieser neuen Kriege ist die Sexualisierung der Gewaltanwendung, sei es, daß bei der Eroberung eines Dorfes die weiblichen Bewohner vergewaltigt werden, sei es durch die Einrichtung von Schwängerungs- und Vergewaltigungslagern, wie das teilweise in Bosnien der Fall gewesen ist.

Mit dem Ziel, andere ethnische oder religiöse Gruppen ins Mark zu treffen und zu vertreiben.

Und wahrscheinlich auch zu zerstören – wie in Algerien bei der gezielten Vergewaltigung junger Mädchen aus etwa berberischen Stämmen, die damit heiratsunfähig werden, so daß die soziale Struktur dieser Gemeinschaft zerschlagen wird. In diesen neuen Kriegen ist sexuelle Gewalt so etwas wie eine Form des Waffengebrauchs geworden. Es ist nicht nur eine bloße Begleiterscheinung der Entdisziplinierung, sondern es gibt eine strategische Rationalität der systematischen Vergewaltigung.

Was hält diese Kriege in Bewegung?

Zunächst sind diese Kriege relativ billig geworden, weil sie mit relativ preiswerten Waffen geführt werden, mit automatischen Gewehren, insbesondere der Kalaschnikow, Landminen, leichten Raketenwerfern, Pick-ups und noch ein bißchen Schrott aus dem Wettrüsten des Kalten Krieges. Das ist kein teures Großgerät. Man muß die Truppen nicht lange einüben, sondern sie können unmittelbar nach der Bewaffnung auf die Zivilbevölkerung losgelassen werden. Darüber hinaus handelt es sich bei den Kriegsakteuren oft nicht um Staaten, bei denen hinterher Bilanz gezogen wird: Was hat uns der Krieg gekostet? Was hat er uns eingebracht? Sondern es sind private Warlord-Akteure, Netzwerke, die ihre Kostenrechnungen in anderer Form machen. Die können möglicherweise aus dem Gebiet verschwinden, jedenfalls die Anführer, und sich in irgendwelchen ruhigeren Teilen der Welt niederlassen, um die finanziellen Erträge ihres fünfzehn-, zwanzigjährigen Wirkens als Kriegsunternehmer in Ruhe zu konsumieren. Es gibt eine Reihe von Ländern in Westeuropa, in denen es zu einem Stelldichein reichgewordener Warlords kommt.

Diese Art Kriegführung lohnt sich also wieder und wirft Gewinne ab. Was sind die ökonomischen Gewinnfelder dabei?

Zunächst sind es illegale oder als illegal bezeichnete Güter. Da ist der gesamte Bereich der Drogen; in jüngster Zeit waren es auch kurzzeitig Diamanten, die sogenannten Blutdiamanten; in Afrika sind es Tropenhölzer, mit denen Geschäfte gemacht werden. Es sind auch junge Frauen, die in Dörfern gekidnappt werden und über die Verbindung der Warlords zur international organisierten Kriminalität in die Bordelle Westeuropas und Nordamerikas geliefert werden; wenn man davon ausgeht, daß im Durchschnitt in der EU eine Prostituierte 12 000 Euro im Monat erwirtschaftet, wovon für ihren Lebensunterhalt vielleicht 500 Euro ausgegeben werden, lassen sich daraus erhebliche Gewinne ziehen. Grundlage dieser Gewinne ist die gewaltsame Versklavung von Menschen in diesen neuen Kriegen.

Und ein dritter Punkt verdient Aufmerksamkeit: Wenn die Warlords weder Rauschgift noch Diamanten noch Öl haben, können sie westliche Medien einladen und ihnen Hunger und Elend vor Augen führen. Das kann dazu führen, daß dieses Elend in den Fernsehsendungen ausgestrahlt wird, begleitet von der Einblendung von Spendenkonten. Anschließend kommen die Nichtregierungsorganisationen, die Ärzte ohne Grenzen zum Beispiel, liefern Hilfsmittel dorthin, und die ersten, die sich dieser Hilfsmittel bedienen, sind wiederum die Warlords.

Bei Kriegsbeobachtern wie Ryszard Kapusciski oder Hans Christoph Buch oder auch bei Ihnen kommen die humanitären Organisationen nicht so ganz gut weg.

Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht. Die hochstehenden moralischen Intentionen der Helfer humanitärer Organisationen haben gelegentlich negative Effekte in den betroffenen Gebieten zur Folge. Man hat in Somalia daraus eine Konsequenz gezogen, indem man gesagt hat: Wir können diese Nichtregierungsorganisationen so nicht humanitäre Hilfe leisten lassen, weil sie dann den Bürgerkrieg mitfinanzieren und fortführen, wir müssen Militär reinschicken, das sicherstellt, daß die Hilfslieferungen auch zu denen kommen, zu denen sie kommen sollen. – Das hat in Somalia bekanntlich keinen Erfolg gehabt, weil der Versuch zur Entmachtung der Warlords scheiterte.

Der Versuch der Amerikaner, 1993 in Mogadischu einen Warlord zu ergreifen, endete in einem Desaster, die Amerikaner zogen sich zurück. Von Somalia abgesehen, über welche Gebiete der Erde, über welche Länder und Regionen sprechen wir gerade?

Wir sprechen über die Randzonen der alten Reiche. Über die Donaumonarchie, aus deren Trümmern teilweise das jüngst zerfallene Jugoslawien hervorgegangen ist, über die Südgrenze des Zarenreiches, die Kaukasusregion, über den gesamten Bereich des Osmanischen Reiches, das am Ende des Ersten Weltkrieges untergegangen ist und zu dem die Krisenregion des Nahen Ostens gehört hat. Natürlich gehören dazu auch die alten Kolonialreiche der europäischen Mächte, der Briten, der Franzosen, der Portugiesen, in Südostasien, in Schwarzafrika. Inzwischen kommt auch Lateinamerika hinzu, das sich schon im 19. Jahrhundert aus der Kolonialherrschaft befreit hat. Man kann sagen, es handelt sich um einen großen Bogen, der in Kolumbien und Peru beginnt, tendenziell das gesamte subsaharische Afrika erfaßt, über den Nahen Osten nach Zentralasien reicht und über Pakistan, das Kaschmirgebiet nach Südostasien, die Philippinen, Indonesien und mehr einbezieht. Wenn man auf eine Landkarte schaut, erkennt man ein dichtes Band, in dem sich ein Krisen- und Kriegsgebiet an das andere reiht.

Eine breite Peripherie um die staatlich verfaßten Gesellschaften. Wie ist das Verhältnis zwischen diesen staatlich verfaßten Gesellschaften und den eher anarchisch und mit solch neuen Kriegen schwelenden, auch verbrennenden Gesellschaften?

In der zurückliegenden Zeit des Kalten Krieges haben die beiden Machtblöcke darauf geachtet, daß ihre Klientelschaften in den einzelnen Regionen bei der Stange blieben. Das ist inzwischen nicht mehr der Fall. Es gibt Regionen, an denen die reichen Staaten des Nordens kein Interesse mehr haben, jedenfalls nicht an dem Gesamtgebiet. Das führt dazu, daß ein weiterer Akteur in diesem Spiel auftritt, nämlich internationale Unternehmen, die zum Beispiel nach Öl bohren, Erze schürfen oder Buntmetalle suchen und die mit Diktatoren, Clanchefs zusammengebrochener Staaten, erfolgreichen Warlords Verträge schließen, um Produktionsexklaven in den von diesen kontrollierten Gebieten einzurichten und solche Produktionsexklaven auch durch Söldnerunternehmen schützen zu lassen. Diese konnte man früher in Kapstadt, heute bevorzugt in London mieten, wenn man Geld hat. Militärisch gut ausgebildetes Personal aus der Ukraine, aus Weißrußland steht zur Verfügung. Das ist nicht einmal so teuer. So daß es für ein Unternehmen interessanter sein kann, eine Produktionsexklave von einem privaten Sicherheitsunternehmen schützen zu lassen, als einen korrupten Staat zu finanzieren, wie man das früher häufig gemacht hat.

Spielt nicht auch der Waffenhandel und seine Ökonomie eine wichtige Rolle. Immerhin lassen sich mit dem ständigen Zufluß von Waffen und Gewaltmitteln in diese Zonen gute Gewinne machen.

In allen Kriegen spielen Waffenproduktion und Waffenhandel eine entscheidende Rolle. Aber man muß sehr genau unterscheiden zwischen der Produktion von High-Tech-Waffen, wie dies in den USA der Fall ist und wozu die erhöhten Rüstungsausgaben nach dem 11. September dienen, und dem Handel mit älterem Kriegsgerät und zugehöriger Munition. Die High-Tech-Rüstung ist teuer, und die können sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nur noch die USA leisten. Die Europäer könnten sie sich wohl auch leisten, aber dies wollen sie aus mancherlei Gründen nicht. Dagegen sind die in den neuen Kriegen eingesetzten Waffen billig. Sicherlich sind sie angesichts der Armut dieser Länder immer noch zu teuer, aber im Vergleich sind sie billig – sonst hätten die Kriege in Afghanistan, Somalia, Angola, im Kongo und anderswo niemals so lange gedauert. Obendrein ist ein Teil des militärischen Geräts umfunktioniertes ziviles Gerät, wie etwa die Pick-ups, die in allen diesen Kriegen als Transportmittel wie auch als schnelles Gefechtsfahrzeug dienen. Dennoch: Auch in den neuen Kriegen läßt sich mit Waffenhandel viel Geld verdienen. Was bis zum Ende der Blockkonfrontation die Waffenlieferungen der jeweiligen Anlehnungsmächte waren, ist nun privatisiert, internationalisiert und kriminalisiert. Über die Kanäle und Wege, auf denen die Händler und Schmuggler die illegalen Güter wie Drogen und Diamanten, Edelhölzer, Buntmetalle und so weiter transportieren, werden auch Waffen und Munition bewegt, und man wird davon ausgehen dürfen, daß sich diese beiden Geschäftszweige längst lukrativ miteinander verbunden haben. Im übrigen: Die Ursprungsquellen dieses Waffenhandels sind natürlich die zu leerenden Waffenlager der Armeen des Ost-West-Konflikts.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.