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Cover Lettre International 77, Francesco Clemente
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LI 77, Sommer 2007

Schauplatz Teheran

Unter den Laternen einer traurigen Stadt pulsieren neue Lebenskräfte

(...) Jede echte Stadt ist auch ein Palimpsest, ein beschriebenes und bemaltes Pergament, doch mit Spuren alter Schriften und Figuren, die auf den Seiten ihrer Geschichte verborgen und lesbar sind. Darum ist es kein Zufall, daß Freud in Das Unbehagen in der Kultur die Schichten der Psyche mit den archäologischen Schichten der Stadt Rom vergleicht, weil Rom ein wahres Palimpsest ist, wo wir zusammen mit den Resten und Ruinen der klassischen antiken Stadt die mittelalterlichen Bauten, die großen Werke der Renaissance und die prunkvollen Barockpaläste finden, ganz zu schweigen von den moderneren Gebäuden. Dort vermischt sich alles: das mit der Jugend vereinte Alter, das Erhabene mit dem Vulgärsten; die Epochen überlagern sich – und all das in einem organischen Wachstum, das auf der Welt nicht seinesgleichen hat. Aber die Stadt kann sich auch in ein Bild verwandeln, das die Welt und die Geschichte darstellt. Zum Beispiel Paris.

Ich meine, daß es keine andere Stadt gibt, die diesen einzigartigen Charakter eines liber mundi – eines „Buches der Welt“ – besitzt, das heißt, daß Paris ein steinernes Manuskript ist, eine Landschaft von Reminiszenzen, deren Entzifferung uns in die eigentliche Seele des Westens einführt. Ein Freund, der rumänische Cineast Paul Barba-Negra, hat eine sehr suggestive Vorstellung von Paris, die in gewisser Hinsicht die historische Bestimmung der Stadt als eine Bewegung erklärt, die von Osten nach Westen gehe, Seine-abwärts, also von der Kathedrale Notre-Dame zur Place de l’Étoile, und auf dem Weg nach Westen entdecken wir die aufeinanderfolgenden Etappen der Wanderung des Geistes. Wenn die gotische Kathedrale im Herzen der Île Saint-Louis das erste Morgenrot des Lichts sei, ein vollkommener Mikrokosmos, der in seinen steinernen Traum das – wenigstens für den mittelalterlichen Menschen – allumfassende, kosmologische Wissen einbeziehe, so sei der Louvre-Palast – die fürstliche Residenz – das Zentrum der Heiligung der zeitlichen Macht, denn hier ersetze die absolute Macht des Priesterkönigs die kosmische Wissenschaft des allumfassenden Ganzen. Weiter westlich gelangen wir zur Place de la Concorde, wo das Gottesgnadentum der Kapetingerherrscher auf dem Altar der Revolution geopfert wurde. Während der Triumphbogen – auf der Place de l’Étoile (Place Charles de Gaulle) – weiter westlich den Glanz des Napoleonischen Kaiserreichs aufleuchten lasse, den der Verbreitung der neuen liberalen Ideologie in alle Erdenwinkel. Ich vermag nicht zu sagen, ob wir es mit der Götterdämmerung oder dem überwältigenden Fortschritt des menschlichen Denkens zu tun haben, wie Condorcet versichert hat. Jedenfalls findet die Hegelsche Bewegung in Paris ihre eindringlichste architektonische Umsetzung, und an keinem anderen Ort der Welt entdecken wir einen vollständigeren Schauplatz der Werke des Denkens in Raum und Zeit.

Doch ich möchte über Teheran sprechen. Handelt es sich um eine Illusion, wie es das Paris -Baudelaires war, dieses Visionärs der Moderne, als er „die winklig engen Gassen der alten Hauptstädte“ vorführte, wo selbst das Grauen ein Wunder sein kann? Oder ist es vielleicht wie jenes gespenstische, traumhafte, phantasmagorische Sankt Petersburg, das Gogol und Dostojewski erträumten und sich vorstellten? Ganz und gar nicht! Im Gegensatz zu Isfahan, das ein eigenständiger Mikrokosmos ist, war Teheran niemals eine emblematische Stadt und hatte auch nie den anspruchsvollen Status einer geschichtsträchtigen Stadt. Außerdem darf man sich fragen: Ist Teheran wie Istanbul, Rom und andere uralte Metropolen eine Palimpseststadt? Auch das gewiß nicht! Denn es ist tatsächlich nur zwei Jahrhunderte alt, obwohl es Hinweise auf seine Existenz gibt, die bis ins 11. oder 12. Jahrhundert zurückreichen, was dem Ruhm der sehr nahe gelegenen alten Stadt Raghes zu verdanken ist und was Teheran eine gewisse Aura verliehen hat. Agha -Muhammad Khan, der Begründer der Kadscharendynastie (sie herrschte von 1781 bis 1925), beschloß Ende des 18. Jahrhunderts, Teheran zur Hauptstadt des Persischen Reichs zu machen. Trotzdem und ungeachtet aller Verschönerungen, die die Kadscharenherrscher vornahmen, blieb die Stadt ein mehr oder weniger gefälliger, mehr oder weniger einladender kleiner Ort, der wie eine Perle in ihrer Muschel eingeschlossen war und dessen Architektur schon den Verfall einer Vision ankündigte, die in der Safawidenzeit zur Apotheose gelangt war, während sich hier nur ein Abbild des Niedergangs und Verfalls der Kadscharenherrschaft bot.

Unter der Pahlawidendynastie (1925 bis 1979) erlebte Teheran eine wirklich moderne Entwicklung. Es bekam breite, geradlinige, von Bäumen gesäumte Alleen, die von Norden nach Süden und von Osten nach Westen verlaufen und die den orientalischen Geist der Stadt veränderten. Diese Neugestaltung führte zu einer soziologischen Teilung zwischen dem modernen Norden, wo die verwestlichten Reichen wohnten, und dem traditionelleren Süden, wo man noch rund um den Suk und die mehr oder weniger gut erhaltenen Überreste einer schon vergangenen Epoche lebte. Die Stadtlandschaft verwandelte sich radikal durch die Schaffung eines öffentlichen Raums im Umkreis von Plätzen und kleinen Gärten. Eine Universität wurde errichtet. Es entstanden Verwaltungszentren, eine Zentralbank und ein Nationalmuseum, und es bildete sich ein neuer imperialer Stil heraus: der „neuachämenidische“. An diesem gewaltigen Aufbauwerk beteiligten sich viele ausländische, armenische und iranische Architekten. Die meisten von ihnen hatten ihre Ausbildung an der Pariser École des Beaux-Arts erhalten.

All diese Werke waren zwar bedeutsame, jedoch kurzzeitige Bemühungen, die im Lauf der Zeit untergingen, und bis zur Herrschaft von Mohammad Reza Schah -Pahlawi, dem letzten König des Ancien régime, erreichte die Stadt den Rang einer Metropole nicht. Schließlich, nach der Revolution, dehnte sich die Stadt sowohl in ihrer Breite als auch in ihrer Höhe maßlos aus, und sie wurde von der erdrückenden Masse der Landflüchtlinge besetzt. Im Lauf der Zeit verwandelte sich Teheran in eine verarmte Megastadt, einen feindlichen utopos – einen Ort, der kein Ort ist –, ohne Charakter und ohne Identität. Erfreute sich Teheran nicht trotzdem einer privilegierten Lage? Ich meine die prachtvolle Elbrusbergkette, die die Stadt im Norden einrahmt. Jeder, der ein Mindestmaß an Geschmack besitzt, würde annehmen, daß eine Stadtplanung, so wenig intelligent und durchdacht sie auch sein mag, an einem Ort wie diesem ein solch außergewöhnliches Geschenk, das uns die Natur so hochherzig gewährt hat, hervorheben müßte. Doch so war es nicht, und man tat alles mögliche, um es verschwinden zu lassen und es mit beinahe unbändiger Wut zu zerstören.

(...)

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.