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Inhaltsverzeichnis

LI 106, Herbst 2014

Entscheidung am Majdan

Eine Phänomenologie der ukrainischen Revolution

(…)

Beginn der Revolte

Wiktor Juschtschenko und Julija Tymoschenko erwiesen sich als derartige Enttäuschung, daß 2010 Janukowytsch zurückkam und über Tymoschenko triumphierte – die er kurz darauf einsperren ließ. Janukowytschs Hochburg ist der Donbass, das Donez-Steinkohlebecken, die ostukrainische Bergbauregion. Für viele dort ist er der Lokalmatador, der es zu etwas gebracht hat. Nicht, daß ihn dort „jemand wirklich mögen“ würde, der Mann ist eklig, lächerlich und ungebildet – aber trotzdem, so spekuliert Jurko, im Donbass denkt man eben, das ist einer von uns. Und darauf waren sie stolz. Wie auch immer, einmal mehr wurde die Ukraine von einem Gangster regiert, der vor dem Kreml buckelte. Janukowytsch und die Oligarchen auf seiner Seite beuteten ein verarmtes Land aus. Die Ukraine machte etwas durch, was an Nicolae Ceauşescus Herrschaft in Rumänien erinnerte. Janukowytsch und seine Familie bauten sich goldene Villen, während das gewöhnliche Volk hungerte, fror oder sein Leben bei einer Explosion in einem unregulierten Bergwerk lassen mußte, in dem die Arbeitsbedingungen nicht über das 19. Jahrhundert hinausgekommen waren. Ein kleiner, aber feiner Unterschied zu Ceauşescu, Hitler und Stalin, ja selbst zu Wladimir Putin, bestand darin, daß Janukowytsch kein großartiges Narrativ bot, kein Versprechen auf Transzendenz. Er war einfach – und völlig ungeniert – ein Gangster. („Er ist nicht nur ein Gangster“, sagte mir mein Freund Ivan Krastev, ein Politanalytiker. „Er ist ein kleiner Gangster.“ Ein Gedanke, zu dem der polnische Außenminister Radosław Sikorski meinte: „Na ja, die Summen, die da im Spiel waren, waren alles andere als klein.“)

Die Ukraine hat nie eine funktionierende Demokratie gekannt. Aber unter Janukowytsch nahmen Kleptokratie und Korruption besonders schamlose Ausmaße an. Das Justizsystem war für jeden zu kaufen, die Polizei funktionierte nach dem Willkürprinzip. Das Gesetz hatte schon lange niemand mehr ernst genommen. „Das ukrainische Gesetz“, so schrieb Jurkos Bruder Taras Prochasko während Janukowytschs Herrschaft, „ist so angelegt, daß man sich noch nicht einmal daran halten kann – unter all den anderen Gründen, weil das Gesetz sich selbst widerspricht. Aus diesem Grund ist das Leben in der Ukraine nicht auf das Gesetz gebaut, sondern auf Regeln. Und deren erste ist, daß man das Gesetz brechen kann.“

Doch die Hunderttausende, die an der Orangen Revolution teilgenommen hatten, gingen nicht zurück auf die Straße. Man hätte meinen können, sie hätten resigniert – bis zu jenem Augenblick im November 2013, als Janukowytsch plötzlich den Kurs wechselte und sich weigerte, das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union zu unterzeichnen. Putin übte Druck auf ihn aus, sich seiner Eurasischen Union anzuschließen und im Rahmen der russischen Welt, der russki mir, gegen den Westen Front zu beziehen. Das Assoziierungsabkommen war nicht gerade attraktiv –es versprach mitnichten eine Aufnahme in die EU, legte der Ukraine kostspielige Reformen auf und hätte aller Wahrscheinlichkeit nach finanzielle Vergeltungsmaßnahmen seitens der Russen provoziert. Trotzdem war es von großer symbolischer Bedeutung: Hätte die Ukraine nun eine Chance, zu Europa zu gehören, oder nicht?

Die Antwort darauf stand zu keinem Zeitpunkt von vorneherein fest. „In der Zwischenzeit“, so schrieb Taras Prochasko, „betreiben Europa wie Rußland Forschung in unserem Labor. Sie experimentieren, obwohl weder der eine noch der andere eine Ahnung hat, wie das Ergebnis der Synthese aussehen könnte.“

Auch Jurkos Ansicht nach war das Abkommen alles andere als prickelnd. Selbstverständlich war seine Bedeutung größtenteils symbolisch. Aber es war immerhin etwas, ein Zeichen dafür nämlich, daß die Ukraine, wie zögerlich auch immer, einen neuen Weg einschlug; daß Janukowytsch, selbst wenn er ein verhaßter Despot – und Putins Marionette – bleiben würde, um eine Reform der Justiz nicht umhinkäme. Es hätte bedeutet, daß dieses oligarchische Regime zum Einlenken bereit war und dazu, von den schlimmsten Auswüchsen der Kleptokratie abzusehen. Es wäre „ein Fuß in der Tür“ zu Europa gewesen. Man war allgemein davon ausgegangen, Janukowytsch würde das Assoziierungsabkommen unterschreiben. Als sich im letzten Augenblick abzeichnete, daß Janukowytsch unter dem Druck des Kremls einbrechen und nicht unterschreiben würde, schwankte man in Jurkos Freundeskreis zwischen Weltuntergangsstimmung und dem Gefühl, das unmöglich hinnehmen zu können – dem Gefühl, die Grenzen des Tragbaren seien erreicht.

(…)

Dobko ist Philosoph. Für ihn war der Majdan eine seltene Erfahrung von Authentizität im tiefsten existenzialistischen Sinne: Verantwortung übernehmen, Entscheidungen treffen, die Realisierung von Selbstheit, die Erfahrung von Solidarität mit anderen Menschen. Es gab Augenblicke, in denen Markijan sicher war, die Revolution sei verloren. Und dennoch ging er immer wieder hin. Einmal fragte ihn jemand, warum er denn in der Kälte des Majdan stehe, wenn seiner Ansicht nach ohnehin alles verloren war? Er hatte darauf keine bessere Antwort, als daß er sich eben dazu entschlossen habe. Er habe eine Entscheidung getroffen.

Geboren war diese Authentizität aus Grenzerfahrungen, und der Preis dafür war hoch.

(…)

„Die zeitgenössische Ukraine ist ein postmoderner Staat“, schrieb Taras. „Hier ist alles möglich.“ Mischtschenko verglich den Umstand, auf Schritt und Tritt mit der Möglichkeit einer Provokation rechnen zu müssen, mehr oder weniger damit, sich ständig zu kneifen, um sicherzugehen, daß man nicht träumt. „Die Regierung hatte ein schreckliches Spiegelkabinett aufgebaut“, schrieb sie. „Die Miliz lief in der Arbeitskleidung der Stadtreinigung herum, Berkut-Einheiten tobten zusammen mit angeheuerten Kriminellen durch die Straßen, die Geheimdienstler warfen sich eine ukrainische Fahne um und gingen den Majdan auskundschaften, Plünderer gaben sich als Rechter Sektor aus. Nichts war so, wie es schien.“

Die Ukraine, so erklärte Taras, existiere in dem allgemeinen Einvernehmen, daß „sich sämtliche Prinzipien jeden Augenblick und ohne Vorwarnung ändern lassen“. Das ist auch das Prinzip der Revolution selbst: Es kann sich jeden beliebigen Augenblick alles ändern. Markijan schilderte mir, wie rasch die Stimmung auf dem Majdan umschlagen konnte. Für Mischtschenko war die Logik des Majdan die Logik von Träumen: Das Unmögliche war im nächsten Augenblick möglich. Zeitlichkeit nahm ganz neue Formen an. Niemand schlief mehr; jeder war rund um die Uhr telefonisch zu erreichen. In jedem Fall hatte man Angst einzuschlafen – immerhin konnte man einige Stunden später aufwachen und erfahren, daß alles, aber auch absolut alles, anders war.

(…)

Der Aufstand siegt

Am Abend des 19. Februar, einem Mittwoch, kam der polnische Außenminister Radosław Sikorski nach Kiew. Er hatte sich bereits bei mehreren Gelegenheiten mit Janukowytsch getroffen und dabei den Eindruck gewonnen, der ukrainische Präsident habe ein gewisses Maß an Vertrauen zu ihm. Janukowytsch wußte in Polen seinen wesentlichen Fürsprecher bei der EU – und im Prinzip hatte
Janukowytsch die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens ja nur hinausgeschoben und wollte die Verhandlungen mit der EU fortsetzen. Darüber hinaus, so sagte Sikorski, habe er Janukowytsch „nicht wegen Julija in den Ohren gelegen; er wußte, daß ich nicht Julijas Anwalt war“.

So trafen sich denn Sikorski und Janukowytsch am Vormittag des 20. Februar im Präsidentenpalast, nur einen Steinwurf vom Majdan, wo man seit halb neun auf die Demonstranten schoß. Zu dem Zeitpunkt stand der Majdan bereits in Flammen, und als Sikorski am Palast eintraf, trug der Wind den Rauch vom Majdan herein. Im Palast selbst herrschte eine „merkwürdig antiseptische“
Atmosphäre.

Sikorski war mit dem deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier bei Janukowytsch; zusammen vertraten beide die Europäische Union. „Die eigentliche Herausforderung“, so sagte Sikorski über Janukowytsch, „bestand darin, überhaupt zu Wort zu kommen; er ließ einen Platz nehmen und redete auf einen ein.“ Janukowytsch gab sich gerissen; Sikorski sprach unverblümt. Was Sikorski für ein großes Problem gehalten hatte, erwies sich als merkwürdig leicht geregelt – nach einem dreiviertelstündigen Telefonat mit Putin erklärte sich Janukowytsch zur Verkürzung seiner Amtszeit bereit. Außerdem willigte er ein, die Verfassung von 2004 wiedereinzuführen, in deren Wortlaut den Befugnissen des Präsidenten Grenzen auferlegt waren. Er wußte, daß er der Mehrheit im Parlament von Stunde zu Stunde deutlicher verlustig ging und seine Partei der Regionen zerfiel. Einige Einheiten von Berkut und Militär waren im Begriff, von der Fahne zu gehen, vor allem im Westen der Ukraine. Womöglich hatte Putin ihm das russische Asyl verweigert. Sikorski wußte nicht, was Putin ihm bei dem Telefonat gesagt hatte.

Während sie verhandelten, richteten Janukowytschs Sicherheitskräfte ein Massaker an, und dennoch behielt der ukrainische Präsident seinen „ziemlich steifen Breschnew-Stil“ bei. Sikorski wußte, daß während ihres Gesprächs weitere Menschen starben. Bohdan Soltschanyk war einer von ihnen. Und Sikorski wußte auch: Je länger sie brauchten, desto mehr Leute würden sterben. Janukowytsch jedoch zeigte nicht die Spur von Emotion. „Er ist nicht sehr gescheit“, sagte Sikorski, „er hat nicht viel Phantasie.“

Am Abend stießen auch die Führer der Oppositionsparteien – Witalij Klytschko, Arsenij Jazenjuk und Oleh Tjahnybok – dazu. Auch wenn sie keine Kontrolle über den Majdan hatten, hatten die Oppositionsführer sich von Anfang an auf die Seite der Revolution gestellt. Sikorski fiel auf, daß Klytschko, Jazenjuk und Janukowytsch nicht die Spur von Feindseligkeit gegeneinander an den Tag legten; die Atmosphäre der Verhandlungen war „bemerkenswert untoxisch“. Sikorski war überrascht, wenn auch nicht bestürzt. Daß Politiker trotz aller Differenzen miteinander reden müssen, ist dem Außenminister klar.

Die Verhandlungen zogen sich durch die ganze Nacht. Am Ende hatte man den Text einer Übereinkunft erarbeitet – nur vermochte Klytschko die Vertreter des Majdan nicht zu einer Unterschrift zu bewegen. Zu diesem Zeitpunkt hatten bereits mindestens 106 Demonstranten den Tod gefunden, viele durch die Scharfschützen der Berkut. Es waren größtenteils junge Männer, viele mit Kindern, einer ein alleinerziehender junger Witwer, der eine dreijährige Tochter hinterließ. Klytschko stand auf einer Bühne am Majdan, seine düstere Miene wie in Stein gehauen, als der sechsundzwanzigjährige Wolodymyr Parasjuk atemlos und unrasiert von den Angehörigen seiner Kampfeinheit sprach, die gefallen waren. Während Parasjuk sprach, trug man in offenen Särgen deren Leichen durch die Menge; Parasjuk rief den Majdan auf, keine Kompromisse mit einem Mörder wie Janukowytsch zu akzeptieren. Klytschko bat Sikorski um Hilfe. „Sie hatten buchstäblich gerade ihre Leute sterben sehen“, erzählte Sikorski, „es war also wirklich ein harter Brocken“ für sie. Er versuchte es mit einem leidenschaftlichen Appell: Er sei in Polen in der Ära von Solidarność volljährig geworden. Solidarność sei ein Wunder gewesen, dem vom Majdan gar nicht so unähnlich: ein wahrer Massenprotest; die Überwindung bis dahin bestehender sozialer Grenzen; ein leidenschaftliches Bestehen auf moralischen Werten angesichts eines unmoralischen Regimes. 1981, so sagte Sikorski den Leuten, haben wir die Macht des Regimes unterschätzt. Die Folgen davon waren Kriegsrecht und Massenverhaftungen. Also, riet er ihnen, erklärt euch jetzt einverstanden und verlangt später mehr. Die Anführer des Majdan wußten nicht recht. „Wenn ihr das jetzt ablehnt“, sagte Sikorski schließlich, „bekommt ihr das Kriegsrecht, die Armee, und ihr seid alle tot.“

Sie unterschrieben – alle bis auf zwei von 34.

Eine Stunde später war Sikorski auf dem Majdan. Es war ein Augenblick großer Befriedigung für ihn: Das Schießen hatte aufgehört; die Spezialeinheiten schwanden dahin. Sikorski war von der Vermutung ausgegangen, daß die Übereinkunft das Ende von Janukowytschs Regime bringen würde, aber er hatte mit mehreren Wochen gerechnet. Wie sich herausstellte, war es eine Angelegenheit von Stunden. Janukowytsch floh. Die Demonstranten stürmten seine luxuriöse Residenz und fanden eine goldene Toilette und ein pornographisches Porträt ihres nackten Expräsidenten. Sie plünderten die Villa nicht. Statt dessen beließen sie die Residenz so, wie sie war, als eine Art Museum oligarchischer Tyrannei – protzig und absurd. „Welche Logik kann man von einem Menschen erwarten,“ fragte Zhadan, „der eine goldene Toilette benutzt?“

(…)

Für Jurko war das eine außergewöhnliche Erfahrung. Für ihn als Psychotherapeut war sie besonders wichtig – gerade in einem solchen Augenblick bekam sein Beruf einen Sinn. Auf persönlicher Ebene war sie für ihn wichtig, weil er ein schlechtes Gewissen hatte – immerhin war er zu Hause in Lwiw geblieben, während in Kiew Menschen ihr Leben ließen. Und dann war diese Erfahrung wichtig für ihn, weil sie ihm einen enormen Einblick in die revolutionäre Seele gab. „Weil ich alles verstanden hatte“, sagte er mir.

„Ich hatte die Dynamik dahinter verstanden, warum Menschen eine Revolution wollen, warum sie eine Revolution machen, warum sie gar nicht anders können, warum sie sich freiwillig melden. Ich hatte Hingabe verstanden. Ich hatte nur eines nicht verstanden – für mich war das die Grenze meiner eigenen Erfahrung: Ich hatte den Augenblick nicht verstanden, in dem ein Mensch zu sterben bereit ist. Und jetzt verstand ich das plötzlich … es ist ein Neuanfang, ein Schritt über die Grenzen des Selbst hinaus, wenn du verstehst, daß mit dir zusammen Menschen sind, die bereit sind, für dich zu sterben, die bereit sind, sich für dich in Gefahr zu begeben, wenn du verwundet wirst, um dich zu tragen … dann kommt eine Bereitschaft auf – es ist eine Art Bruch, ein Staunen über die dem Menschen gegebenen Möglichkeiten, eine ungeheure Dankbarkeit anderen gegenüber, einfach eine Begeisterung über Großherzigkeit und Hingabe. Und die Erfahrung einer ungeheuren Solidarität … Ich weiß nicht, wieviel davon Eros ist und wieviel Thanatos, ich kann nur sagen, wenn ein Mensch in einem solchen Zustand ist, taucht etwas auf, das ihm sagt, daß diese Erfahrung einer so ungeheuren menschlichen Solidarität über dem Wert meines eigenen individuellen Lebens steht. Und bei solchen Menschen verschwindet einfach die Angst vor dem Tod; an ihre Stelle tritt die Überzeugung, daß der andere bereit ist, für mich zu sterben, also bin ich auch bereit, für ihn zu sterben. Ohne Reue … was selbstverständlich mit der Zeit wieder vergeht; aber es vergeht nur in den Menschen, in denen es auftaucht. Weil es viele gibt, die zu so einer Erfahrung nicht fähig sind. Die gehen nicht auf Barrikaden. Sie verstecken sich oder gehen erst gar nicht hin … Ich sage hier nicht, daß das gut ist oder schlecht – darum geht es hier nicht. Es geht hier nicht darum, ob das Extremismus ist oder ob das kein Extremismus ist oder ob es besser gewesen wäre, die Revolution gewaltfrei zu halten. Es geht hier rein um die Phänomenologie, man muß es einfach verstehen, weil wir sonst nichts über Revolutionen verstanden haben. Nichts.“

Majdangegner

Das Ende der Schlacht auf dem Kiewer Majdan war der Anfang der russischen Annexion der Krim und eines von Rußland gesponserten Kriegs im Osten des Landes. Putin hat damit die Trauerarbeit gestört. Die Trauer um die Toten ist unerledigt geblieben, das Geheimnis des Majdan bleibt unverarbeitet.

(…)

„Die Erfahrung der Solidarität ist bei alledem von zentraler Bedeutung“, davon ist Jurko überzeugt. „Absolut.“

„Es könnte überhaupt keine erfolgreichen Revolutionen geben ohne das Gefühl, daß der Idealismus nicht nur in mir lebendig ist, sondern auch in ihm und in ihr und in ihr und so weiter und so fort … Es ist wunderbar, zu entdecken, wozu eine Person fähig ist. So etwas verändert einen Menschen völlig, zutiefst. Und dann holt einen unweigerlich die Alltäglichkeit wieder ein, und mit ihr kommen ihre kleinen Ärgernisse. Jemand rempelt mich auf der Straße an: ‘Hey, was soll denn das? Paß doch auf, wo du hinläufst!’ – ‘Paß doch selber auf!’ Das ist die Rückkehr des normalen Lebens. Aber diese Erfahrung, die Offenbarung derart großer Seelen in seinen Mitmenschen – die ist durch nichts zu ersetzen und auch nicht zu kaufen, nicht mit allem Geld der Welt.“

Der Majdan war einer dieser seltenen Augenblicke, die einen an die Grenzen menschlicher Erfahrung stoßen, war die Art menschlicher Erfahrung, die man nicht ohne Veränderung übersteht. Er war der Schauplatz einer Aufhebung der Subjektivität, und der Kulminationspunkt bei der Erringung der Selbstheit war gleichzeitig die Überwindung des individuellen Selbst, seine Transzendenz zur Solidarität. Dieser Zustand der Transzendenz kann nicht stabil sein, er konnte auch hier nur einen Augenblick währen – aber es war ein Augenblick, den die meisten Menschen ihr Leben lang nicht erfahren. Es war eine Begegnung mit ihrer tiefsten Selbstheit durch die Begegnung mit anderen – eine Begegnung, deren Folgen nicht abzusehen waren.

Jurko weiß, daß die Zukunft nicht vorauszusehen ist. Er weiß, daß die Zeit der Mythenbildung erst noch bevorsteht und daß alles passieren kann. „Weil nichts garantiert ist“, sagte er, „rein gar nichts. Vielleicht erweist sich diese Revolution als genauso kläglich wie die Orange Revolution – die, wie sich herausstellte, überhaupt keine Revolution war. Aber irgend etwas sagt mir, daß es diesmal anders wird.“
 

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.