LI 31, Winter 1995
Weshalb versinkt Venedig
Elementardaten
Genre: Bericht / Report, Erinnerung, Poesie
Übersetzung: Aus dem Serbokroatischen von Azra Dzajic
Textauszug
(...)
Ich schaue in den Himmel über Venedig.
Nichts hat sich verändert in den letzten
sieben Milliarden Jahren. Oben - ist Gott. Er
erschuf das Weltall, im Weltall sieben Milliarden
Welten, in jeder Welt eine Vielzahl von Völkern, eine Fülle
von Sprachen, und jeweils ein - Venedig.
Die Völker erschuf Er verschieden, ins Ohr flüsterte Er ihnen: "Nun
lernt einander kennen." Eine Unmenge von Sprachen gab Er, auf daß sie diese erlernen,
die einen von den anderen, auf daß sie sich durch die Sprachen kennenlernen, und alle
dadurch reicher werden, und besser. Venedig gab Er, wie
Er Vogel und Fisch gab, auf daß die Menschen und Völker glauben
an Ihn - verwundert über Seine Werke.
Ich schaue in den Himmel über Venedig. Oben, und überall,
ist - Gott. Der Einzige. Der das Weltall erschuf, sieben
Milliarden Welten im Weltall, in jeder Welt viele
Sprachen und Völker, und jeweils ein Venedig. Und ein kleines
Volk gab Er, in einer Welt, auf dem Festland , das genannt wird
Europa, im Stamme der südlichen Slawen. Hier ist die Grenze.
Bosnien, Bosnien, Bosnien. Es berühren sich hier und bekämpfen sich, das Östliche
Kreuz und das westliche Kreuz, aus dem einen Kreuz entstanden. Aber
das Volk der Bosniaken ist friedlich. Daher ergriff es die Hand des Dritten
Glaubens: an den einzigen Gott, der nicht geboren, auch nicht gebar
aber der Herr der Welten ist, und Herrscher am jngsten Tage.
Ich schaue in den Himmel über Venedig. Die irdischen
Herrscher nahmen sich vor: das Volk der Bosniaken - soll es nicht geben.
Venedig versinkt. Europa versinkt. Es versinkt die Wiege, und das Kind
in der Wiege versinkt. Es versinken die Kontinente. Es versinkt die Rose in der Vase
aus Murano-Glas. Es versinkt Murano. Das Hotelzimmer versinkt.
Und der Club der toten Dichter versinkt. Weshalb soll es nicht
auf der Welt geben das Volk der Bosniaken? Unter den Farben
- eine Farbe weniger? Unter den Düften - ein Duft weniger?
Weshalb soll es nicht auf dieser Welt geben - dieses Venedig?
Unter den Wundern - ein Wunder weniger?
Ich schaue in den Himmel, über die irdische Welt.
Ein Stern, in weitem Bogen, stürzt in den Abgrund
des Weltalls. Als fiele er - mitten in den Canale Grande.
Die irdische Welt, unter sieben Milliarden kosmischer
Welten, will verarmen um ein ganzes
Volk. Dies ist der Wille der irdischen Herrscher.
Im Weltall fällt ein Stern. Deshalb versinkt
Venedig. Das Weltall verarmt - um eine ganze
Welt. Dies ist der Wille des Herrn der Welten.
Dies ist der Wille des Herrschers am Jüngsten Tage.