Direkt zum Inhalt
Cover Lettre International 61, Friedemann von Stockhausen
Preis: 9,80 € inkl. MwSt. 7%
Inhaltsverzeichnis

LI 61, Sommer 2003

Burning Man

In der Wüste Nevadas kuriert sich Amerika von seinen Dämonen

In einer der unwirtlichsten Gegenden Amerikas verbrennen die Einwohner von Black Rock City jedes Jahr eine turmhohe Puppe aus Holz. Viele von ihnen sind kostümiert, andere nackt. Im heißen Atem der Flammen kommt es zu Gelöbnissen, Tränen, spontanen Kopulationen. Doch nicht nur das macht die Ereignisse um den Burning Man so bemerkenswert. Black Rock City ist eine temporäre Stadt in der Wüste, die allein zu Ehren der Puppe entsteht und nach ihrer Verbrennung verschwindet wie eine Fata Morgana.

Die Stadt wurde in San Francisco erdacht. Sie ist keine 20 Jahre alt. An ihrem Anfang steht eine Legende. Die Legende will, daß eine Frau ihren Freund für einen anderen Mann verließ. Der verlassene Liebhaber trug den Namen Larry Harvey. Zur Sommersonnenwende zimmerte er aus Holz ein zweieinhalb Meter hohes Ebenbild seines Rivalen. In der Nacht zog er mit seinen Freunden zum Baker Beach, um den Popanz zu verbrennen.

Dem Jargon seines progressiven Milieus entsprechend, bezeichnete er die Aktion als einen radikalen Akt der Selbstdarstellung. Es sind keine Verbindungen zu Voodoo bekannt. Es ist nicht klar, warum er ein Bildnis des Mannes verbrannte und nicht ein Bildnis der Frau.

Die Wurzeln von Burning Man liegen nicht nur in der Boheme. Sie liegen genauso in Neuengland. Sie liegen in Nebraska. Sie liegen im Bible-belt. Sie liegen in der Welt presbyterianischer Farmer, die Fremde mit dem bösen Blick bedrohen. Wo Britney-Spears-Kopien vor ihrem Onkel auf die Knie gehen, während der Fernsehprediger Halleluja singt. Sie liegen in Scheunen, die man verriegelt hat, nicht damit kein Laut nach innen dringt, sondern um zu verhindern, daß die Nachbarn etwas hören. Nachbarn, die des Nachts um Häuserblöcke schleichen, in denen Lolita von der Schaukel zusehen muß, wie Papa ihre Barbiepuppen sodomisiert und auf die Zacken seiner Mistgabel spießt ...

Von den emporschlagenden Flammen wurde das Strandvölkchen am Baker Beach angezogen wie Sünder von der Hölle. Dicke Leute umarmten sich in der Brandung. Beatniks rezitierten Gedichte. Ihre Kumpane grölten Obszönitäten über das Wasser. Spontanes Verhalten wurde geübt, man ließ sich in coole Jogaposen gleiten. Das Feuer flackerte auf nackter Haut. Frauen preßten ihre Bongos gegen die Vulva und begannen, in Trance zu trommeln ...

In den folgenden Jahren wird das Ereignis am selben Tag wiederholt. 1990 ist die Menge bereits in Stimmung, bevor die Holzpuppe überhaupt aufgebaut worden ist. Bierdosen zischen. Irgendwo gehen Gegenstände zu Bruch. Würste verbreiten entsetzlichen Gestank. Über den Baywatch-Fönfrisuren schwanken die einzelnen Teile des Artefakts in heikler Balance, als sie zum Strand getragen und dort zusammengebaut werden sollen.

Da sieht Larry Harvey sein Spiegelbild in den Ray Bans eines Motorradpolizisten. Der Cop trägt einen schweren Schnauzer. Als er sein Lenkrad abdreht, schwillt das "Y.M.C.A." auf seinem Bizeps. Unter dem bis zum Platzen gespannten Shirt ist sein Körper vollgepumpt mit Anabolika. Cowboyboots schleifen beim Bremsen über den Sand. Es soll Schluß sein mit der Party. Strandfeuer dieser Größe sind in der Golden Gate National Recreation Area verboten.

Man setzt sich zusammen und spricht. Es kommt zu einem Kompromiß: Die Statue darf aufgestellt, aber nicht verbrannt werden. Unterdessen sind die Zuschauer ungeduldig geworden. Niemand hat den Polizisten bemerkt. Ein Megaphon ist nicht vorhanden.

So steht Larry Harvey einfach vor dem großen Mann aus Holz, der nicht brennen soll. Er steht Aug in Aug mit Hunderten von Leuten, die ein Spektakel erwartet haben und sich nun betrogen fühlen. Es hilft nichts, daß die Dada-Clowns der Kakophonischen Gesellschaft die Leute an den Schultern packen und rufen: "Die Show seid ihr selbst!" Ihre Mahnungen ertrinken in Sprüchen wie "Jetzt geht's lo-h-os!" oder "Abfackeln! Abfackeln!"

Aus dem Pulk lösen sich Gestalten und versuchen auf eigene Faust Feuer zu legen. Es kommt zum Handgemenge. Ein Unbekannter springt dem Veranstalter an die Gurgel und muß mit Gewalt entfernt werden. Die erste Phase von Burning Man ist vorbei. Nie wieder fernsehen Einige Wochen später stecken Larry Harvey, sein Freund Jerry James und Mitglieder der Kakophonischen Gesellschaft in einem Restaurant die Köpfe zusammen. Es entstehen die Spielregeln, die bis heute für Burning Man gelten. Larry Harvey wird nicht erwartet haben, darüber einmal eine Vorlesung zu halten. Tatsächlich bewegt er sich zehn Jahre später durch einen zum Bersten gefüllten Saal. Am Boden sitzt die Jugend, Beutel im Schoß, Rücken gegen die Wand gelehnt, und hängt an seinen Lippen wie an denen von Noam Chomsky und John Rawls. Er mag in die Jahre gekommen sein, aber seine Bäckchen haben noch immer das Cornflakes-zum-Frühstück-Rosa des jungen Jimmy Connors. Im Alter, soviel ist heute schon klar, werden sie von der senilen Frische Präsident Carters sein.

"Ich erinnere mich daran, wie ich auf der Dachterrasse meines Onkels stand und über die Dächer blickte", erzählt Larry Harvey. Es klingt, als schriebe er direkt von Don DeLillo ab. "Auf jedem Dach war eine Antenne montiert. Sie verschwammen vor meinen Augen zu einem Nebel, zum Plasma der verschmutzten Luft. Es erstreckte sich bis hin zum Horizont, und jede dieser Antennen repräsentierte einen Fernseher. Die große spiritistische Sitzung Amerikas hatte begonnen.

Erst nach und nach haben wir erkannt, wie sehr unsere Kultur im Spätkapitalismus des 20. Jahrhunderts zu einer Ware verkommen ist, und die Auswirkungen dieser Tatsache können wir noch immer nicht abschätzen. Hätte ich das gewußt, als ich damals über die Antennen blickte, dann wäre mir auch klargeworden, daß unter jedem Dach in jedem Hause Menschen lebten, in Isolation von der wirklichen Welt. Wie die berühmten Gefangenen in Platos Höhlengleichnis bekommen diese modernen Gefangenen nur schemenhafte Schatten der Wirklichkeit zu sehen. Sie starren regungslos auf unterhaltsame Bilder und mißdeuten sie, jeder auf seine Weise, als greifbare Dinge und tatsächliche Erfahrungen. Innerlich verzehrt von einem unstillbaren Hunger, einer grenzenlosen Gier nach Brot und Spielen und ihrem zweifelhaften Versprechen der Befriedigung, ertragen sie diesen Zustand der Hypnose von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr, ihr ganzes Leben lang, in einem Zustand der Isolation vom Sonnenschein dieser Welt und in einem Zustand der Isolation voneinander."

Die Lösung liegt darin, ersinnen Larry Harvey und seine Freunde im Restaurant, sich mal so richtig dreckig zu machen. Um das zu erreichen, ist eine Strandparty nicht mehr genug. An ihre Stelle tritt eine Gemeinschaft, in der Menschen nicht mehr Konsumenten, sondern Beteiligte sind. Nichts darf gekauft, nichts verkauft werden. Die Mitglieder in dieser Gemeinschaft müssen folgerichtig Selbstversorger sein. Transaktionen sind dennoch erwünscht, da sie die Isolation des Menschen durchbrechen. Da Handel verboten ist, finden sie in der Form von Tausch und des Gebens von Geschenken statt. Dabei werden nicht nur Gegenstände verschenkt, sondern auch Erfahrungen. Kunst ist das beste Mittel, diese Erfahrung zu gestalten. In der Wahl dieser Mittel besteht absolute Freiheit. Als einzige Bedingung gilt, daß man den Schmutz am Ende auch wieder mit nach Hause nimmt. Es sollen keine Spuren verbleiben.

Sie träumen nichts anderes als eine alternative Version des amerikanischen Traums. Larry Harvey und seine Kollegen träumen davon, sich selber neu zu erfinden. Sie träumen vom Wilden Westen. Sie träumen, daß irgendwo da draußen ein Paradies auf Erden wartet, das seinen Eroberern reichlich Belohnung verspricht. Sie träumen davon, auf dieser jungfräulichen Erde das neue Jerusalem zu bauen, die ideale Stadt. Wahrscheinlich träumen sie vor allem von Sex. Sie brauchen nur noch eine Spielwiese. Sie finden sie in der Nähe eines gottverlassenen Nests namens Gerlach, Nevada.

Denn hier, mitten in der Wüste, nicht weit entfernt von den heiligen Wassern des Pyramid Lake, liegt auf einer Höhe von 1 200 Metern das Bett eines gewaltigen, ausgetrockneten Salzsees. Seine Oberfläche ist glatt wie ein Spiegel und mit weißem, alkalischem Mehlstaub bedeckt. Diese endlose, blendende Fläche wird am Horizont von blauen Bergen eingefaßt. Die Temperaturen können am Tag 40 Grad erreichen und in der Nacht binnen weniger Stunden auf den Gefrierpunkt fallen.

Dieses Land hat einen seltsamen Effekt auf die Besucher aus San Francisco. Die Einsamkeit verkleinert und vergrößert sie gleichzeitig. Sie schließen die Augen und beginnen zu rennen, in der Gewißheit, daß es für Meilen und Meilen nichts gibt, worüber man fallen kann. Das alkalische Mehl kleidet ihre Füße in gespenstische Stille. Sie mögen sich die Seele aus dem Leib schreien, aber es gibt kein Echo und niemanden, der sie hört. Vielleicht reißen sie sich einfach die Kleider vom Leib und beginnen zu ficken. Dann kugeln sie wie Kinder über den Boden, und als sie wieder aufstehen, hat der Staub ihnen das Aussehen von Kannibalen verliehen.

Irgendwann werden sie müde und kauern sich unter einem Sonnendach zusammen wie die ersten Menschen auf diesem Planeten. Denn hier bietet keine Pflanze Schutz vor der Sonne, kein Käfer unterbricht mit seinem Summen die Stille, kein Vogel kreist oben am Himmel, der tagsüber von metallischer Strenge ist und sich in der Nacht mit Millionen von Sternen belebt. An ihrer Stelle suchen tückische Sandstürme die Gegend heim und verschwinden so plötzlich, wie sie erscheinen. Gewitter sind selten. Doch wenn sie kommen, irrlichtern elektrische Entladungen über den Bauch ihrer Wolken, die Wüste und Berge in furchtbare Lichter tauchen.

(...)

Preis: 9,80 € inkl. MwSt. 7%
Inhaltsverzeichnis
Zum Seitenanfang

Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.