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Cover Lettre International, Martin Assig
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LI 117, Sommer 2017

Letztmalig London

Besessene Wanderungen eines hinkenden Psychogeographen

SO: DAS LETZTE LONDON. Mit Betonung auf dem Ende: London erledigt, fertig, done. Dabei bleibt jede Aussage hier unter Vorbehalt. Nichts steht fest oder auf sicherem Grund. Kommen Sie morgen wieder, und das British Museum ist vielleicht eine Eishalle, ein Boutique-Hotel, ein Fashion-Outlet. Die altbekannten Straßen sind hinter Wänden aus gebogenem Glas oder in progressiven Löchern im Boden verschwunden. Der abgedunkelte Verkaufsraum für jüdische Grabsteine des Steinmetzen in der Brick Lane wird Kunstgalerie. So? Aus dem viktorianischen Theater in der Dalston Lane ist auch schon The Slab geworden: Und jetzt soll auf dieser zugigen Betonplatte mit ihren Stützpfeilern aus gescheiterten Unternehmen, bei keinem Thema bleibenden Themenrestaurants und Einkaufsmöglichkeiten, in die trotz all der weichgezeichneten glücklichen Kunden aus einer anderen computeranimierten Welt keine Massen strömen, ein springbrunnengesäumtes Riff aus Spekulationstürmen entstehen, die sich niemand leisten kann. So, so. Ich versuche, mir selbst die Grammatik einer terminierten Stadt beizubringen, in der jeder Satz mit einem zuversichtlichen Räuspern beginnt: „So …“ Das ist das Kennwort. Es ist, als wäre man ohne Text auf die Bühne geschubst worden, um in einem Stück aufzutreten, das man nicht mal gelesen hat. Und lächeln! Bluffen wie ein Politiker in einem Glaskasten, der von gestikulierenden Assistenten mit schwarzen Anzügen und Klemmbrettern dirigiert wird. Also? „Alles zum besten im bestmöglichen aller Londons“, sagt der Bürgermeister, sagt der Minister, sagt Joanna Lumley. „Alles zum besten“, sagen die Ermächtigten, die Seilschaften, die Stakeholder, Investoren und Profiteure.

Früher, als meine Kinder noch Teenager waren, bedeutete „so“ noch „so“. So! Also!!! Eine hormonale Herausforderung. Jetzt ist es ein Zeichen, ein Warnton, der dem Empfänger signalisiert, daß auf alles Folgende nichts Verläßliches folgt. Der Sprecher, das Sprachrohr, der gekaufte Experte übernimmt keine Gewähr. Im letzten London ist die Sprache Verhandlungssache, ein Wirbel terminologischer Ungenauigkeiten. Wir verlieren den Boden unter den Füßen. Desorientiert rutschen und schlittern wir auf unterordnenden Konjunktionen dahin. Gehen fühlt sich wie Fallen an, und wir halten uns an allem fest, was kalt, hart und älter als eine Woche ist.

(…)

Beim dissoziativen Bewandern Londons, mit wirklichen Füßen auf unwirklichem Boden, müssen wir mit dem Gefühl der Bodenlosigkeit fertig werden. In Erwartung eines größeren Sturzes gehen wir immer schneller und schneller und schlängeln uns an schwer beschäftigten, mit gesenktem Kopf dahineilenden Chattern und Tweetern vorbei, die offenbar allein auf den Knall programmiert sind. Die langen Schatten von halbfertigen Türmen der Eitelkeit, Silos des Kapitals und die flimmernde Belästigung der Clowns mit Solarienbräune und Haifischgrinsen, die uns von Werbewänden ihre Daumen entgegenrecken, verdunkeln den Boden. In Smart City ist Donald Trump eine gute Sache. Er macht die Bruchlinie sichtbar. Dieser goldmähnige König Ubu des Internets hat die Güte, den haarsträubenden Horror des Konzernopportunismus ebenso zu personifizieren wie die selbstsüchtige reflexhafte Verlogenheit des Bedienpersonals für den Politbetrieb, das nur sanftere Töne anzuschlagen vermag. Der Mann ist unübersehbar. Und laut genug, um über Ozeane hinweg hörbar zu sein. Diesem gehirngewaschenen Botschafter der Angst hat bloß keiner mitgeteilt, daß er den Präsidenten hätte erschießen sollen, nicht sich selbst den Thron unter den Nagel reißen. Das Hineintorkeln in einen von grotesken Gestalten bevölkerten Apokalypse-Comic begann ungefähr in der Thatcher-Ära; hier liegt der Anfang meines letzten Londons. Selbstverständlich gab es auch vorher schon viele letzte Londons. Ständig stirbt London ab und lebt wieder auf, es leidet und erneuert sich die ganze Zeit; aber jetzt rechne ich mit einem Endspiel für die Art Schreiben, für die ich stehe. Ich habe zu viele unsichere Fakten in die Welt gesetzt. Zu viele Gegennarrative. Zuviel Alternativgeschichtsschreibung in zu vielen Worten.

(…)

1991: als Machtpolitik okkult wurde. Versuch des Exorzismus durch zielloses Wandern und Wallfahren gegen den Uhrzeigersinn um schwelende Randbezirke und Autobahnringe. London flirtete wie eh und je mit dem Untergang. Ein wiederkehrender Tropus vor und nach Kriegen, Feuersbrünsten und Bomben in der Underground. Der Granatsplitter im trepanierten Schädel des traumatisierten Louis-Ferdinand Céline im Exil in London, im labyrinthischen Soho. Er schreibt in Guignol’s Band:
… gigantische Geschäfte! … phantastische Getreidesilos, Festungen für Handelsware, Berge gegerbter Ziegenhäute, so viele, daß es bis Kamtschatka stinkt! Wälder von Mahagoni, die Stämme in Tausenden Stapeln, gebündelt wie Spargelstangen, zu Pyramiden getürmt, Kilometer von Zeug! … Teppiche, um gleich den Mond, die ganze Welt auszulegen … sämtliche Dielenböden des Universums! … Schwämme genug, um die Themse trockenzulegen! … (…) Kaffee für den ganzen Globus! … in Mengen, um die wütendsten Armeen der Welt bei ihren Gewaltmärschen auf vierhunderttausend Rachefeldzügen anzustacheln …
Dröhnende Letztheit. Der Impuls, tabula rasa zu machen und von vorn zu beginnen. „London war, es ist nicht mehr“, hielt John Evelyn nach dem Großen Brand von London fast genüßlich die nackten Tatsachen fest. „London war, es ist nicht mehr.“ Das erinnert mich an Ian Holloway, den Manager der Queens Park Rangers, der mit seinem weichen, surrenden und seine Arbeitgeber beruhigenden West-Country-Dialekt im Radio über das schreckliche Formtief des Clubs sprach. Mit entwaffnendem Optimismus meinte er: „Ich glaube, wir haben den Gipfel der Talsohle erreicht.“ Genau dort scheint auch das jetzige letzte London zu stehen: auf dem Gipfel der Talsohle. Dieser Irrsinn, Europa zu verlassen, unsere Brücken zu verbrennen, die Krankenhäuser finanziell auszuhungern – all das ist Teil eines deliranten Abschiedsbriefs. Wenn das Schlimmste mit tausend Stundenkilometern auf dich zurast, dann öffne die Arme, es zu empfangen.

(…)

Ich kann nicht untergehen. Ich bin stoßfest, feuerfest und immun gegen Krankheit. Ich bin überzeugt von dem, was wir tun. Ich spreche viele Sprachen. Stewardessen aller Nationalitäten haben mich bedient und erinnern sich an mich. Ich bin hier irgendwo drinnen und spüre, wie sich das Ding im Mauerwerk dreht. Mit der harten Oberfläche der Absicht überzogen. Sie können nicht zu mir vordringen. In der Annahme, ich sei eine Maschine, scheuen sie sich, mich zu zerlegen und damit das Geheimnis. ‘Foltergärten und malerische Bahnlinien.’ Ich gehe, wohin sie mich schicken. Um zu zerstören oder zu stehlen. Zu benutzen oder zu beschwatzen. Wir gingen in den Park und verliefen uns. Kamen zu einem anderen Tor heraus und liefen in die falsche Richtung.“ (Aus: Tom Raworth A Serial Biography)

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.