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Cover Lettre International, François Fontaine
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LI 112, Frühjahr 2016

Die russische Kugel

(…)

Golubew interessierte sich schon seit langem für diese „Geschoßzüge“, und zwar seitdem er einmal, wie immer auf Dienstreisen sorglos und angetrunken, ein Spukbild gesehen hatte.

Es war in der Nähe von Twer,2 auf der Station Doroschicha. Ein großes, aus Sowjetzeiten stammendes Waggonwerk hatte einen Kredit erhalten und die Presse, darunter die Hauptstadtpresse, eingeladen, um ihr kaum überzeugendes Konzept vorzustellen. Man zeigte ihnen nichts wirklich Sehenswertes, dafür gab es reichlich zu essen und zu trinken. Golubew verließ mit einer angefangenen Flasche Wodka und einem zerdrückten Imbiß in einer Serviette das lautstarke Gelage, um sich in seliger Einsamkeit irgendwo auf einer Frühlingswiese niederzulassen und sich rosigen, unsteten Träumen hinzugeben. Die Maisonne brannte wie ein Bügeleisen, und der angetrunkene Golubew tappte auf der Suche nach einem geeigneten Hügel endlos über die erhitzten Gleise, die eine flußdeltabreite Fläche überzogen. Unter seinen Fußsohlen knirschte Schlacke, ölig und heiß wie Popcorn, zerlumpte Schmetterlinge flatterten umher, zwischen den Bahnschwellen lugten kleine runde Blümchen gelb hervor. Mit einem Mal stutzte Golubew und blickte auf.

Auf den ersten Blick ein ganz normaler Waggon. Genauer gesagt Schrott, die Überreste einer Vorstadtbahn wohl. Rostige Geschwüre in der geriffelten Seite des Waggons, profan wie ein Waschbrett. Mit Blech vernagelte Türen und Fenster, hier und da wie durch ein Wunder erhaltenes Fensterglas, ausgetrocknet und grau wie altes Kohlepapier. Und darüber, auf dem Kopf des Waggons, die Überreste eines Düsentriebwerks.

Golubew ging ein paar Male um den gespenstischen Wagen herum. Das Turbinenstrahltriebwerk schaute wie ein zerschlagenes Binokular blind in die Ferne. Die abgerundete Nase des Wagens, die eine hohe Geschwindigkeit ermöglichen sollte, war eingefallen wie bei einem Syphiliskranken.

Die eiserne Tragödie machte mit stillem Schreien auf sich aufmerksam, die Rostflecken wirkten wie getrocknetes Blut. Etwas unaussprechlich Seltsames, unaussprechlich Unnatürliches lag in der Unbeweglichkeit dieser einem Flugzeug ähnelnden Bahn, die für immer an die Gleise gefesselt war.

Golubew versuchte hineinzukommen, hüpfte und kletterte, und trank zwischendurch den Rest des Wodkas aus. Im Inneren der Flugzeugbahn war es stockfinster, und die Luft darin war um Jahrzehnte älter als die, welche Golubew draußen atmete. Es gelang ihm nicht, in die zu hoch gelegene Ruine einzudringen, doch schien ihm, als hörte er von innen ein dumpfes Gewirr aufgeregter menschlicher Stimmen.

Wieder zurück in Moskau, fand Golubew heraus, daß der gespenstische Zug keine Halluzination gewesen war. Er hatte den sogenannten SVL, einen Hochgeschwindigkeits-Testzug, gesehen, der 1970 in genau jener Kalininer Waggonfabrik gebaut worden war, in der jetzt kein einziger Verwaltungsangestellter mehr erklären konnte, was für ein komisches Ding da bei ihnen auf dem Abstellgleis vor sich hin rostete. Anfang der siebziger Jahre wurde der SVL, ausgestattet mit einem Düsentriebwerk des Passagierjets Yak-40, auf der Strecke Nowomoskowsk–Dneprodsershinsk getestet und kam auf eine Geschwindigkeit von fast 250 Stundenkilometern, wonach man das technische Wunderwerk aus unerklärlichen Gründen auf dem Gelände des Herstellerwerkes preisgab.

Die Hochgeschwindigkeitszüge faszinierten Golubew, eroberten seine Phantasie. Ihm schien, daß solch hohe Geschwindigkeit direkt auf der Erde, inmitten des normalen, langsam ablaufenden Lebens die Ordnung der Dinge viel auffälliger verletzte als die zivile Luftfahrt oder sogar die Flüge ins All. Der Hochgeschwindigkeitszug stellte sich ihm als ein Faden dar, den man gewaltsam aus dem Gewebe der Schöpfung gerissen hatte. Golubew dachte darüber nach, daß die „Kugel“ der höchsten Form des Wahnsinns verwandt sei, da es nicht vorstellbar war, sie mit Hilfe des menschlichen Verstandes zu steuern. Den Zug an sich konnte natürlich ein elektronischer Autopilot lenken. Doch welcher Computer wäre in der Lage, alle Bewegungen irdischer Objekte zu kontrollieren, für welche die Flugbahn der „Kugel“ lediglich Gleise und Bahnschwellen darstellte, eine alltägliche Materialität, Teil der gewohnten, längst erschlossenen Landschaft?

Golubew hatte aus irgendeinem Grund Gefallen an der tollkühnen Geschichte der Testung einer turboreaktiven Lokomotive 1966 im östlichen Ohio gefunden. Pilot Don Wetzel erinnerte sich später, daß die Lok, als wäre sie lebendig, die ganze Zeit über versucht hatte, an Fahrt zu gewinnen und eine unerhörte Geschwindigkeit zu erreichen, während sie mit ohrenbetäubendem Gebrüll auf ganz normalen Eisenbahnschienen entlangraste.

Um die durchaus wahrscheinliche Katastrophe abzuwenden, hatte man ihr ein Flugzeug mit langsam laufendem Kolbentriebwerk nachgesandt, das kaum hinter der eigenwilligen Lok herkam. Diese erinnerte von oben an ein Streichholz, das an der Schachtel entlangstrich. Vom Flugzeug aus bemerkte man plötzlich etwas auf den Gleisen Liegendes. Was genau, war nicht zu erkennen. Ein paar Sekunden später – die Don Wetzel wahrscheinlich ein paar Jahre seines Lebens kosteten – ertönte unter den Rädern ein Krachen, schossen Späne hervor. Kinder hatten zum Spaß ein Stück Sperrholz auf die Schienen gelegt. Welch Glück, daß sie nichts Schwereres und Festeres heran-geschleppt hatten!

Zur Steuerung der „Kugel“ gehörte also auch die Kontrolle der gesamten Wirklichkeit: der unzähligen Strecken, aller ursächlichen und daraus folgenden Verbindungen. Nehmen wir mal an, daß der Staat Ohio wie auch die anderen nordamerikanischen Staaten, wie die Länder Europas, wo mit bislang unübertroffener Geschwindigkeit der französische TGV daherfliegt, in Gottes Hand liegen und somit wenigstens durch Seinen allsehenden Willen steuerbar sind. Rußland dagegen erschien Golubew stets als Territorium mit einer zusätzlichen Dimension – der Tiefe. Rußland war wie ein gewaltiger Land-Ozean, ein Atlantis, das nunmehr seit Jahrhunderten im Untergang begriffen war. Wer war wohl in der Lage, halb Rußland sechs Stunden lang von Hand zu steuern, bis der Hochgeschwindigkeitszug „Rossija“ Irkutsk erreichte?

Golubew seufzte tief, bekreuzigte sich und schritt in den desodorierten, etwas stickigen Wagen.

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.