Direkt zum Inhalt
Cover Lettre International, Jorinde Voigt
Preis: 13,90 € inkl. MwSt. 7%
Inhaltsverzeichnis

LI 110, Herbst 2015

Papa ist ein Alien

Eine Erinnerung

(…)

Ich nehme an, daß es in Vaters Leben einen Moment gegeben hat, wo er in den Kosmos hätte fliegen können. Seiner Qualifikation nach hätte er die Position des Bordingenieurs einnehmen können. Vermutlich erlaubte seine Gesundheit das nicht. Das unbekannte Ereignis im numerierten Städtchen hatte seine Gefäße brüchig gemacht und ihm vermutlich jenen Krebskeim eingepflanzt, an dem er viele Jahre später sterben sollte. Papa vermied es, sich zu sonnen – die Sonne machte ihm blaue Flecken. Es kam auch vor, daß er sich leicht vorbeugte und die Hand vors Herz hielt, als sei es schlecht befestigt, hätte sich gelockert und könnte ihm herausfallen. Aber Vater fürchtete Ärzte mehr als Krankheiten. Er sagte: „Man braucht sich denen nur zu überlassen – schon finden sie irgend etwas, schicken dich irgendwohin und machen mit Tabletten einen Idioten aus dir.“

So blieb Vater auf der Erde. Ich war viele Male bei ihm am Forschungsinstitut. Die Brutstätte der sowjetischen Raketentruppen war eine typisch breschnewsche Einrichtung: Mit einem Loch im Zaun. Der Haupteingang wurde mit stumpfsinnigem Ernst bewacht: drei Drehkreuze, bullige Wachposten mit Augen, die aussahen wie ein weiteres Paar ihrer eisernen, sehr fest angenähten Uniformknöpfe. Aber an der Stirnseite des Instituts gab es eine unauffällige Tür mit einer gemütlichen Oma-Pförtnerin, die immer an einem endlosen „Melange-Pullover“ aus lockerer, gekräuselter Wolle strickte. Durch diese Tür konnte man in die Betriebskantine gelangen, wo es nicht teuer und relativ wohlschmeckend war. Und auf den Tischen lagen vergilbte, wie mit Wachs bespritzte, aber trotzdem echte Tischdecken. Dort gab Vater mir mittags zu essen und nahm mich manchmal mit zu sich nach oben, wenn meine ehrwürdige Kinderfrau, von der mein Gedächtnis eine Kette mit Perlen, klein wie Ameisenlarven, und einen Hornkamm in ihrem Haar behalten hat, zu ihren Verwandten gefahren war.

Ich erinnere mich auch an das Wunder der Rechnertechnik, den Computersaal. Das sah aus wie endlose Bienenkörbe, Metallwaben mit Information. An den Pulten saßen sehr wichtige Leute, die Operatoren, alle in ungewöhnlich krausen, weißen Kitteln. Wenn die Maschinen in Betrieb waren, standen die Forscher Schlange, um daran zu arbeiten, und Papa, der anderen gewöhnlich leicht nachgab, stand sich hier zu Tode. Einmal wehrte er in meinem Beisein den Angriff von gleich zwei Dränglern ab – einem Kahlen mit Rübenkopf und einem, welcher der Filmfigur Schurik glich, einem kompletten Psychopathen.

„Sieh mal“, sagte Vater, in den Computersaal deutend, „in zehn Jahren wird all das hier die Größe einer Streichholzschachtel haben und in jedermanns Tasche sein.“

„Und auf dem Mars werden Äpfel blühen“, fügte der Pseudo-Schurik giftig hinzu und drücktesich die wackelige Brille auf die Nase.

Das Erstaunlichste in der Höhle der Raketentruppen war nicht der Computersaal, sondern ein ganz anderer Raum. Dort standen eiserne Soldatenbetten mit pieksigen Bettdecken aufgereiht, und auf jedem Bett lag ein flaches, weißes Kissen von der Größe einer Pirogge. Ich weiß noch, daß auf manchen Betten jemand schlief, ohne sich ausgezogen zu haben, in robbender Haltung. In einer Ecke gab es ein trogförmiges Emaillewaschbecken, auf dem in einem trüben Glas Zahnbürsten standen, die bis zu den Wurzeln abgenutzt waren. Am meisten wunderte mich, daß es vor den hohen Fenstern, die im Wind klirrten, keine Vorhänge gab. In diesem Raum verbrachten die Forscher ein paar Stunden in todesähnlichem Schlaf, wenn die Dringlichkeit oder Schwierigkeit des militärischen Auftrags es ihnen nicht erlaubte, zu Hause zu übernachten. Dann wechselten sie praktisch zur Kasernensituation. In solchen Wochen hatten die eingefallenen Augen meines Vaters einen besonderen Glanz, als hätte man eine starke Medizin hineingeträufelt.

Der kalte Krieg war trotz allem auch ein Krieg. Niemand weiß, welche Krisen in Wirklichkeit unter jener trügerisch glatten Oberfläche entstanden sind, die wir alle als friedliches Leben ansahen.

Viel später, als die Perestroika den militärisch-industriellen Komplex zu rostigen Bruchstücken zerschlagen hatte, fing Papa plötzlich an, sich zu erinnern, wie man seiner Abteilung (ihm waren mehr als siebzig Ingenieure und Techniker unterstellt) einmal eine Aufgabe gestellt hatte, die eindeutig unlösbar war. Das Spiel hatte mehr mit Karriere und Bürokratie zu tun als mit dem Rüstungswettlauf. Vaters Erinnerungen begannen verärgert und mit keineswegs schmeichelhaften Charakteristiken seiner und fremder Vorgesetzter. Aber bald fing er an zu lächeln, seine mohnfarbenen Gefäßflecken röteten sich noch mehr, und man merkte, daß die Monate, die für die Suche nach dem Unmöglichen hingegangen waren, fast die besten in seinem Leben gewesen waren. Die Abteilung löste die Aufgabe. Dafür bekam Vater keinen Orden, sondern irgendeine Prämie von sowjetischen Gewerkschaften – und das, obwohl die Abteilung unter verschärften Bedingungen gearbeitet und alle Normen des sowjetischen Arbeitskodexes gebrochen hatte.

Hier muß ein lobendes Wort zu den Lagern gesagt werden, die man „Scharaschkas“ nannte. Diese Einrichtung war eine der wenigen, wirklich genialen Erfindungen des Genossen Stalin. Wissenschaftler wurden zu Häftlingen. Man transportierte sie an einen abgelegenen, geheimen Ort, wo sie die Möglichkeit bekamen, sich mit ihrer Wissenschaft zu beschäftigen und nicht etwa, den Wald zu fällen. Die Arbeitsmotivation war hundertprozentig, keine familiären Probleme lenkten von der Hauptsache ab, höchst qualifizierte Arbeit wurde zum Preis von Wassersuppe, Brennholz und militärischer Bewachung geliefert. Im Grunde genommen verdanken wir es Stalins Scharaschkas, daß wir in den Kosmos geflogen sind. Und man glaube nicht, daß diese Einrichtung seit der Entthronung des Persönlichkeitskults der Vergangenheit angehört. In den siebziger und achtziger Jahren lebte und siegte die Scharaschka. Natürlich wurden die Wissenschaftler der Rüstungsindustrie nicht mehr von Wachkonvois begleitet, sondern spazierten sogar durch die Städte wie Sie und ich. Aber ihre Arbeit wurde um Größenordnungen niedriger ver-anschlagt als auf internationaler Ebene, und als Wohnung bekamen sie Plattenbauten im Chruschtschow-Stil, bemessen mit acht Quadratmetern pro Familienmitglied. Es gab in den Betrieben die Methode, die Mitarbeiter durch „Lebensmittelbestellungen“ an sich zu binden und anzuspornen: Beim einen waren das Käse und Kondensmilch, beim anderen Salami und Kaviar. Auch Vater brachte manchmal „Kaviar“ mit – eine klebrig-körnige Substanz in dicken Meßgläsern, die sich, wenn man sie nicht sofort aß, in eine fettige, erdölähnliche Flüssigkeit zersetzte. Woraus dieser Ersatz hergestellt wurde, blieb unbekannt. Das war ein entsetzlicheres Staatsgeheimnis als jede Automatik für den Raketenabschuß.

Warum schufteten die Leute in der Rüstungsindustrie härter als irgend jemand heute? Weil sie keine Wahl hatten. Erstens konnten sie ihre wissenschaftliche Neugier nur auf Staatskosten befriedigen: Vaters Experimente kosteten Millionen Sowjetrubel. Zweitens: Die Flucht meiner Eltern aus dem geheimen Städtchen N war ein einzigartiger Fall. Im allgemeinen bekam jeder, der aus eigenem Antrieb versuchte, die Rüstungsindustrie zu verlassen, einen geheimen Vermerk über seine politische Unzuverlässigkeit und fand höchstens noch als Hausmeister oder Installateur Arbeit.

(…)

Preis: 13,90 € inkl. MwSt. 7%
Inhaltsverzeichnis
Zum Seitenanfang

Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.