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Cover Lettre International, Coralie Salaün
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LI 119, Winter 2017

Verantwortung

Warum Deutschland die Wahrheit über die Ukraine nicht vergessen darf

(…)

Wie Sie alle wissen, wurde das amerikanische Frontier-Imperium mit seiner kontinuierlichen räumlichen Expansion hauptsächlich durch Sklavenarbeit aufgebaut. Doch wir vergessen manchmal, daß es genau dieses Modell des Frontier-Kolonialismus und des durch Sklavenarbeit aufgebauten Frontier-Imperiums war, das Adolf Hitler bewunderte. Wenn Hitler über die Vereinigten Staaten sprach, tat er es, zumindest vor dem Krieg, in der Regel voll Bewunderung. Und für Hitler stellte sich die Frage: Wer werden die rassisch Unterlegenen sein? Wer werden die Sklaven des deutschen Imperiums im Osten sein? Und seine Antwort – in Mein Kampf und in seinem zweiten Buch, aber auch ganz konkret durch die Invasion von 1941 – lautete: die Ukrainer.
     Die Ukrainer sollten im Zentrum eines Projekts der Kolonialisierung und Versklavung stehen. Die Ukrainer sollten, nach dem Muster der Vereinigten Staaten, als Afrikaner oder als Neger behandelt werden: Dieses Wort wurde sehr oft benutzt, wie jeder weiß, der deutsche Dokumente aus der Kriegszeit gelesen hat. Die Idee war eine auf Sklaverei gestützte und auf Vernichtung zielende Kolonialherrschaft in Osteuropa, deren geographisches Zentrum die Ukraine sein sollte.

Aus Hitlers Sicht war die Eroberung der Ukraine der Sinn und Zweck des Zweiten Weltkriegs. Und deshalb ist es unsinnig, irgendeines Ereignisses aus dem Zweiten Weltkrieg zu gedenken, ohne mit der Ukraine zu beginnen. Jedes Gedenken an den Zweiten Weltkrieg, das die Ziele der Nazis – die ideologischen, wirtschaftlichen und politischen Ziele des NS-Regimes – vor Augen führen soll, muß mit der Ukraine beginnen.
     Das ist keine Frage der Theorie, sondern eine Frage der Praxis. Die deutschen Strategien, die politischen Strategien, an die wir uns erinnern, waren alle auf die Ukraine konzentriert: Der Hungerplan, der entwickelt wurde, um im Winter 1941 zig Millionen Menschen dem Hungertod preiszugeben; der Generalplan Ost, dem zufolge Millionen weitere Menschen zwangsdeportiert oder in den nachfolgenden fünf, zehn oder 15 Jahren getötet werden sollten; aber auch Hitlers „Endlösung“, der Plan einer vollständigen Vernichtung der Juden – alle diese Strategien waren theoretisch und praktisch mit der Idee einer Invasion der Sowjetunion verbunden, deren Hauptziel die Eroberung der Ukraine war.
     Infolge der Ideologie dieses Kriegs fielen zwischen 1941 und 1945 rund 3,5 Millionen Bewohner der Sowjetukraine – allesamt Zivilisten – der deutschen Mordpolitik zum Opfer. Zu diesen 3,5 Millionen kamen weitere 3 Millionen Ukrainer, Bewohner der Sowjetukraine, die als Soldaten der Roten Armee oder indirekt infolge des Kriegs starben.
     Diese Zahlen beziehen sich nur auf die Bewohner der Sowjetukraine. Natürlich sind diese Zahlen größer, wenn man die ganze Sowjetunion betrachtet. Aber es ist aus zwei Gründen sinnvoll, hier zwischen der Ukraine und dem Rest der Sowjetunion genau zu unterscheiden.
     Erstens: Die Ukraine war das Hauptkriegsziel. Die Ukraine stand im Zentrum von Hitlers kolonialistischer Ideologie.
     Darüber hinaus aber war praktisch die gesamte Sowjetukraine fast den ganzen Krieg hindurch besetzt, und das ist der Grund, weshalb für die Ukrainer heute der Krieg etwas ist, was hier und nicht woanders stattfindet.
     Hitler hatte nie geplant, mehr als zehn Prozent von Sowjetrußland zu erobern. Tatsächlich hielten die deutschen Truppen zu keinem Zeitpunkt mehr als fünf Prozent von Sowjetrußland besetzt, und auch das nur für einen relativ kurzen Zeitraum.
     Die Russen litten im Zweiten Weltkrieg auf eine Weise, die für Westeuropäer und sogar für die Deutschen unvorstellbar ist. Und dennoch nimmt, wenn wir an die Sowjetunion denken, die Sowjetukraine einen besonderen Platz ein, selbst im Vergleich zu Sowjetrußland.
     In absoluten Zahlen starben im Zweiten Weltkrieg mehr Bewohner der Sowjetukraine als Bewohner Sowjetrußlands. Und das sind die Berechnungen russischer Historiker. Relativ betrachtet, war also die Ukraine während des Kriegs ungleich mehr in Gefahr als Sowjetrußland. Anders gesagt: Man muß den deutschen Vernichtungskrieg als einen Krieg gegen die Sowjetunion sehen, doch in seinem Zentrum stand die Sowjetukraine.
     Wenn wir daher über die Verantwortung Deutschlands gegenüber Rußland sprechen wollen, dann ist das gut so – aber diese Diskussion muß mit der Ukraine beginnen. Die Ukraine liegt auf dem Weg nach Rußland, und die böswilligste Absicht und die destruktivste Praxis des deutschen Kriegs waren auf die Ukraine gerichtet.
     Wenn man es mit der historischen Verantwortung Deutschlands für Osteuropa ernst meint, muß das Wort „Ukraine“ im ersten Satz stehen.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.