LI 31, Winter 1995
Dort und hier
Die Intellektuellen, der Krieg und das Streben nach GlückElementardaten
Textauszug
(...) Eine Frage, die mir oft gestellt wird, wenn ich von einem Aufenthalt in Sarajevo zurückkehre: warum sich außer mir keine anderen bekannten Schriftsteller haben blicken lassen. Dahinter steht die allgemeinere Frage, wie man sich die weitverbreitete Gleichgültigkeit oder den Mangel an Solidarität in Europa (am auffälligsten in Italien und in Deutschland) mit den Opfern eines entsetzlichen historischen Verbrechens, nicht weniger als ein Völkermord, erklären soll - der vierte Völkermord an einer europäischen Minderheit in diesem Jahrhundert. Aber im Gegensatz zum Genozid an den Armeniern mitten im 1. Weltkrieg und an den Juden und Zigeunern Ende der 30er, Anfang der 40er Jahre hat der Genozid an den Bosniak unter dem durchbohrenden Blick internationaler Berichterstatter von Presse und Fernsehen stattgefunden, von denen die meisten der bosnischen Sache wohlwollend gegenüberstanden. Niemand kann Unwissen vorschützen über die Greueltaten, die sich in Bosnien abgespielt haben, seit der Krieg im April 1992 begann - Sanski Most, Stupni Do, Omarska und andere Konzentrationslager mit ihren Mordhäusern (in denen handfest und mechanisch abgeschlachtet wurde, im Unterschied zum industrialisierten Massenmord der Nazi-Lager), das Martyrium von Ost-Mostar und Sarajevo und Gorazde, die militärisch angeordnete Vergewaltigung Zehntausender von Frauen überall im von Serben eroberten Bosnien, das Hinmetzeln von mindestens achttausend Männern und Jungen nach der Kapitulation von Srebrenica ... ein Teil nur aus dem Katalog der Schande. Und niemand kann sich im unklaren darüber sein, daß die bosnische Sache auch die Sache Europas ist: Demokratie, eine Gesellschaft freier Bürger, Multikulturalismus. Warum haben diese Greuel - diese Werte - keinen nachhaltigeren Eindruck hervorgerufen? Warum haben fast keine Intellektuellen von Format und Prominenz demonstriert, um den Völkermord an den Bosniern anzuklagen und die bosnische Sache zu verteidigen?
Der Krieg in Bosnien ist ja nicht das erste Schreckensschauspiel, das sich uns in den letzten vier oder fünf Jahren darbietet. Es gibt jedoch Ereignisse - modellhafte Ereignisse -, in denen sich die wesentlichen gegnerischen Kräfte einer Epoche zu sammeln scheinen. Ein solches Ereignis war der spanische Bürgerkrieg. Wie der Krieg in Bosnien war auch dieser Kampf ein sinnbildlicher. Die Intellektuellen aber - das heißt, die Schriftsteller, Theaterleute, Künstler, Professoren, Wissenschaftler, die dafür bekannt sind, daß sie sich zu wichtigen öffenlichen Ereignissen und Gewissensfragen äußern - sind im bosnischen Konflikt ebenso durch ihre Abwesenheit aufgefallen, wie sie in Spanien in den 30er Jahren durch ihre Anwesenheit auffielen. Natürlich heißt es, fast eine zu gute Meinung von den Intellektuellen zu haben, wenn man annimmt, sie bildete so etwas wie eine immerwährende soziale Klasse, deren Berufung es unter anderem ist, sich für gerechte Sachen" einzusetzen; und daß es ungefähr alle dreißig Jahre einen Krieg gäbe, bei dem es notwendig wäre, öffentlich Position zu beziehen (obwohl man den Krieg haßt), weil das Recht so deutlich auf einer Seite liegt, und diese Seite zu verlieren droht. Intellektuelle als Klasse haben sich nie überwiegend aus Dissidenten und Protestierenden zusammengesetzt. Die meisten Intellektuellen sind genauso konformistisch, und bereit, das Führen ungerechter Kriege zu unterstützen, wie die meisten anderen Leute mit qualifizierten Berufen. Die Zahl der Menschen, bei denen Intellektuelle in gutem oder (abhängig vom eigenen Standpunkt) schlechtem Ruf stehen, ist immer sehr klein gewesen. Dennoch ist das Ausmaß an abweichenden Meinungen und Aktivismus, das mit Intellektuellen assoziiert wird, eine Realität. (Man denke nur an Havel, Pasolini, Chomsky, Sacharow, Michnik ...). Warum so wenig Resonanz auf das, was in Bosnien geschah?
Wahrscheinlich gibt es mehrere Gründe. Herzlose historische Klischees spielen für die Dürftigkeit der Reaktion, für die fehlende Solidarität sicherlich eine Rolle. Der Balkan hat traditionell den schlechten Ruf, ein Ort ewigen Konflikts, unversöhnlicher, uralter Rivalitäten zu sein. Haben sich diese Leute nicht immer schon gegenseitig abgeschlachtet? (Was zu vergleichen ist mit der Äußerung, wenn man mit der Realität von Auschwitz konfrontiert ist: Na ja, was kann man schon erwarten? Der Antisemitismus ist in Europa eine alte Geschichte, wissen Sie.) Nicht zu unterschätzen ist außerdem die Allgegenwart anti-moslemischer Vorurteile, eine reflexhafte Reaktion auf ein Volk, dessen Mehrheit ebenso diesseitig und von der Konsumentenkultur einer modernen Gesellschaft durchdrungen ist wie andere Südeuropäer. Um die Illusion zu nähren, daß dies im innersten Kern ein religiöser Krieg ist, werden die Opfer, ihre Armee und ihre Regierung unweigerlich mit dem Etikett moslemisch" versehen - dabei käme niemand auf den Gedanken, die Angreifer als die Orthodoxen und die Katholiken zu bezeichnen. Haben viele nicht-kirchliche westliche" Intellektuelle, von denen man erwartet hätte, daß sie ihre Stimmen zur Verteidigung Bosniens erheben, dieselben Vorurteile? Natürlich.
Und dies sind nicht die dreißiger Jahre. Auch nicht die sechziger. Tatsächlich leben wir bereits im 21. Jahrhundert, in dem Gewißheiten des 20. Jahrhunderts wie die Identifizierung des Faschismus - oder Imperialismus - oder bolschewismusartiger Diktaturen - als Haupt-"Feind" obsolet sind und keinen Rahmen (oft einen sehr nachgiebigen Rahmen) für Denken und Handeln mehr abgeben. Was es offenkundig machte, daß man die Seite der Regierung der Spanischen Republik ergreifen mußte, was auch ihre Fehler sein mochten, war die Notwendigkeit, den Faschismus zu bekämpfen. Dem amerikanischen Angriff auf Vietnam entgegenzutreten (der das erfolglose Bemühen der Franzosen, an Indochina festzuhalten, fortsetzte), war als Teil des weltweiten Kampfes gegen den euro-amerikanischen Kolonialismus sinnvoll.
Wenn sich die Intellektuellen der dreißiger und sechziger Jahre oft zu leichtgläubig zeigten, zu empfänglich für Appelle an ihren Idealismus, um zu begreifen, was in bestimmten belagerten, erst vor kurzem radikalisierten Gesellschaften wirklich geschah, denen sie kurze mentale oder tatsächliche Besuche abstatteten, dann erscheint die grämlich entpolitisierte Intellektuellenklasse von heute, die stets leicht mit ihrem Zynismus bei der Hand ist, mit ihrer Sucht nach Unterhaltung, ihrer Abneigung, für eine Sache Unannehmlichkeiten zu ertragen, ihrem Streben nach persönlicher Sicherheit zumindest ebenso jämmerlich. (Ich kann gar nicht zählen, wie oft ich jedesmal, wenn ich aus Sarajevo nach New York zurückkomme, gefragt werde, wie ich einen Ort besuchen könne, der so gefährlich ist.) Im großen und ganzen läßt sich die Handvoll Intellektueller, die sich als Menschen mit Gewissen betrachten, heute lediglich für begrenzte Aktionen - etwa gegen Rassismus oder Zensur - im eigenen Land mobilisieren. Nur politisches Engagement im Inland scheint heute annehmbar. Unter einst international gesonnenen Intellektuellen (ich sollte anmerken, daß dies offenbar eher auf Schriftsteller als auf, sagen wir, Ärzte, Wissenschaftler und Schauspieler zutrifft) erfreut sich nationalistische Selbstgefälligkeit neuen Ansehens. Der bloße Begriff der internationalen Solidarität ist in schwindelerregenden Verfall geraten.
Nicht nur das globale bilaterale Denken ( sie" gegen uns"), das von 1914 bis 1989 immer wieder das politische Denken unseres kurzen 20. Jahrhunderts charakterisiert hat - Faschismus gegen Demokratie, amerikanisches Imperium gegen Sowjetreich - ist in sich zusammengestürzt. Was im Kielwasser des Jahres 1989 und auf den Selbstmord des Sowjetimperiums folgt, ist der endgültige Sieg des Kapitalismus und der Konsumorientiertheit, die das Diskreditieren des Politischen" als solchem nach sich zieht. All das ist im Privatleben sinnvoll. Individualismus, die Kultivierung des Ich und des eigenen Wohlergehens - die vor allem das Ideal der Gesundheit" herausstellt - sind die Werte, für die sich die meisten Intellektuellen einsetzen. ( Wie können Sie so viel Zeit an einem Ort verbringen, wo die Leute immerzu rauchen?" war eine Reaktion hier in New York auf die häufigen Reisen meines Sohnes, des Schriftstellers David Rieff, nach Bosnien.) Es ist zuviel, zu erwarten, die Klasse der Intellektuellen würde vom Triumph des Kapitalismss nicht geprägt. Im Zeitalter des Shopping muß es für sie, die alles andere als ausgegrenzt und verarmt sind, einfach schwerer sein, sich mit weniger glücklichen anderen zu identifizieren. Orson Welles und Simone Weill ließen nicht gerade komfortable, großbürgerliche Wohnungen und Wochenendhäuser auf dem Lande zurück, als sie freiwillig nach Spanien gingen, um für die Republik zu kämpfen und beide fast umkamen. Vielleicht ist die Entfernung zwischen dort" und hier" für Intellektuelle heute zu groß.
Seit mehreren Jahrzehnten ist es ein journalistischer und akademischer Gemeinplatz, zu sagen, die Intellektuellen als Klasse seien überholt - das Beispiel einer Analyse, die sich selbst zum Imperativ erklärt. Und jetzt gibt es Stimmen, die behaupten, Europa sei ebenfalls tot. Es wäre vielleicht richtiger, zu sagen, Europa müsse noch geboren werden: ein Europa, das Verantwortung für seine wehrlosen Minderheiten und für die Unterstützung der Werte übernimmt, die es keine Wahl hat zu verwirklichen (Europa wird multikulturell sein, oder es wird gar nicht sein). Und Bosnien ist sein selbst beigebrachter Abort. Mit den Worten von Emile Durkheim: ,,Gesellschaft ist vor allem die Idee, die sie von sich selbst ausbildet." Die Idee, die die wohlhabenden und in Frieden lebenden Gesellschaften Europas und Nordamerikas von sich ausgebildet haben - durch die Aktionen und Äußerungen all derer, die man Intellektuelle nennen könnte - ist die der Verwirrung, der Verantwortungslosigkeit, des Egoismus, der Feigheit ... und des Strebens nach Glück.
Unseres, nicht ihres. Hier, nicht dort.