LI 107, Winter 2014
Der Koffer von Tom Waits
Elementardaten
Genre: Briefe und Kommentare
Übersetzung: Aus dem Italienischen von Michaela Wunderle
Textauszug: 2.555 von 12.099 Zeichen
Textauszug
Eigentlich versucht er gerade, sich einen Satz von Fellini, den er liebt, in Erinnerung zu rufen, aber er fällt ihm nicht ein. Während wir darauf warten, daß er sich wieder erinnert, kommen wir schließlich zu einer schwindelerregenden, wunderbaren Beobachtung von ihm: daß anders, als man gemeinhin glaubt, nicht alles in die Kunst einfließen kann. „Manche Songs wollen nicht aufgenommen werden. Sie wollen einfach keine Songs werden. Es ist genauso, wenn du einen Traum erzählen mußt, manche Dinge entziehen sich der Beschreibung. Alle haben wir Photos von glücklichen Augenblicken, aber niemand hat ein Photo von der Tür, durch die dich deine Frau verlassen hat. An bestimmte Dinge wollen wir uns nicht erinnern. Wir halten sie nicht fest, weil wir uns nicht daran erinnern wollen. Niemand will ein Photo seines toten Hundes oder des eigenen Sohnes, im Krankenhaus, mit gebrochenem Arm.“ Tom Waits’ Texte sind der Ertrag höchster Achtsamkeit auf Einzelheiten und Nuancen. Oft verdichten sich diese Einzelheiten und Nuancen in seinen Worten zu einer Erzählung von Armen, Obdachlosen und Alkoholikern, denkwürdig, deutlich, ohne Ende. „Ich verstehe Dinge vom Detail her. Zum Beispiel, als wir zum ersten Mal in den Irak einmarschiert sind, da zeigten alle Bilder gigantische, bunte Explosionen, Häuser in grell lodernden Flammen, als habe die Regierung einen Film für uns gedreht. Dabei sind doch Hunderte von Menschen gestorben. Dann habe ich die Geschichte einer Frau gelesen, die im Irak eine Hochzeitsagentur hatte und mitten im Krieg von ihrem Geschäft erzählte. Da gab es keine Klimaanlagen, kein Benzin, man mußte Straßen wechseln, weil Gefahr durch Minen drohte, bei der Zeremonie konnte es Explosionen geben, die Torte auf dem Rücksitz schmolz oder fiel in einer Kurve um. Über den Irakkrieg habe ich etwas von diesen kleinen Dingen begriffen. Über die Armen. Leute, die niemand hört. Wenn es möglich wäre, dann hätte ich lieber, sie erzählten ihre Geschichte selbst, aber ihnen fehlt die Möglichkeit dazu. Ich weiß auch nicht, ob sie es überhaupt könnten. Aber richtig ist, daß du es versuchen könntest, wenn du etwas über eine bestimmte Situation begriffen hast. Du mußt kein Gangster sein, um eine Gangster-Story erzählen zu können. Weißt du, Songs ... das ist so, als ob du die Luft aus einem Ballon abläßt.“ Songs wie das Luftablassen aus einem Ballon. Unglaubliche Sätze, zwanglos aneinandergereiht, während er sich auf einem unbequemen Stuhl zusammenrollt und abgelenkt scheint von der stillen Außenwelt, die aus wenigen Autos gemacht ist.
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