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Kunst Tobia Rehberger
Preis: 15,00 € inkl. MwSt. 7%
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LI 147, Winter 2024

Staunen und Überleben

Vom Kino und einem Leiden, das unseren Grad an Bildung übersteigt

(…)

In Neapel, damals war ich vielleicht zwanzig Jahre alt, habe ich Reise ans Ende der Nacht  gelesen. Es ist das Buch, das alles Wissenswerte über die Beschaffenheit des Menschen vermittelt, aber dann offenbart uns der Autor, daß er nichts wirklich davon be­griffen habe. Wenn ich mich recht erin­nere, rechnet Louis-Ferdinand Céline dann an einer Stelle weiter hinten mit einem seiner Charaktere ab und sagt: „Er empfand ein Leid, das sein Bildungsniveau überstieg.“ Hier hielt ich inne, denn ich dachte, diese Behauptung hat Geltung nicht nur für diese Figur von Céline, sondern sie gilt für alle. Womit ich eine feste Basis ge­funden hatte, die es mir er­lauben sollte, eine unendli­che Menge von Ge­schichten und Perso­nen zu erschaffen. Denn dies ist der Punkt: Es gibt keinen der Auflösung unseres Leids adäquaten Bil­dungsgrad. Vielleicht, weil ein be­stimmtes Bil­dungsniveau die schlechte Gewohnh­eit mit sich bringt, im­mer komplexere, tie­fere und facettenrei­chere Leiden hervorzurufen. Fest steht, daß wir des Leidens und Unbeha­gens niemals überdrüssig sind. Es provoziert und verfolgt uns, und immer ist das Glück nur ein Intermezzo, das mit dem Fehler behaftet ist, zu kurz zu sein. Davon möchte ich heute erzählen. Von den bewußten oder unbewußten Leiden der Menschen und ihren jämmerli­chen, lächerlichen, tapferen, mutigen, pathe­tischen Formeln und ihren Versu­chen, eine Lösung zu finden. Und dann bis zum Selbstmitleid oder bis zur Selbstzerstörung in diesen Leiden zu ver­sinken oder, in einer Pro­zession von Wundern, dem Aufblitzen des Zu­falls, der Hoff­nung, des Glücks oder des eigenen Wollens beizuwohnen, um zu einer schlüssigen Antwort zu kommen. 
     Aber dann, das ist der immer gleiche Punkt, an den man zurück­kehrt: Eine solche Antwort findet sich nie, und genau dieses Nie-eine-Ant­wort-Finden ermöglicht es mir, noch einen Film zu realisieren oder ein neu­es Buch zu schreiben. Vielleicht liegt es letztlich an die­sem Nie-eine-Antwort-Finden auf das, womit sich Kunst, Literatur, Theater, Musik, Film und un­ser aller Leben abmühen und dabei versuchen, den Schmerz zu lindern, Auswe­ge zu finden aus den Qualen, aus der Geschichte, aus der Unzulänglich­keit, aus der Mühsal des Lebens. Aber es gelingt nicht, denn ei­nem, der Tricks verwendet, kann man nicht wirklich glauben. Und doch ist die Mühe, dieses Nichtgelingen so unglaublich erre­gend, überwältigend und unverzichtb­ar. Sie ist der Motor, der nie ausgeht. Am Ende findet man niemals etwas, man beginnt von vorn. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt, sagten unse­re nea­politanischen Mütter und Tanten alle resigniert, und es war das Ein­fachste und Wahrhaftigste, das wir je gehört hatten. 

     (…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.