LI 147, Winter 2024
Staunen und Überleben
Vom Kino und einem Leiden, das unseren Grad an Bildung übersteigtElementardaten
Genre: Rede
Übersetzung: Aus dem Italienischen von Michaela Wunderle
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Textauszug
(…)
In Neapel, damals war ich vielleicht zwanzig Jahre alt, habe ich Reise ans Ende der Nacht gelesen. Es ist das Buch, das alles Wissenswerte über die Beschaffenheit des Menschen vermittelt, aber dann offenbart uns der Autor, daß er nichts wirklich davon begriffen habe. Wenn ich mich recht erinnere, rechnet Louis-Ferdinand Céline dann an einer Stelle weiter hinten mit einem seiner Charaktere ab und sagt: „Er empfand ein Leid, das sein Bildungsniveau überstieg.“ Hier hielt ich inne, denn ich dachte, diese Behauptung hat Geltung nicht nur für diese Figur von Céline, sondern sie gilt für alle. Womit ich eine feste Basis gefunden hatte, die es mir erlauben sollte, eine unendliche Menge von Geschichten und Personen zu erschaffen. Denn dies ist der Punkt: Es gibt keinen der Auflösung unseres Leids adäquaten Bildungsgrad. Vielleicht, weil ein bestimmtes Bildungsniveau die schlechte Gewohnheit mit sich bringt, immer komplexere, tiefere und facettenreichere Leiden hervorzurufen. Fest steht, daß wir des Leidens und Unbehagens niemals überdrüssig sind. Es provoziert und verfolgt uns, und immer ist das Glück nur ein Intermezzo, das mit dem Fehler behaftet ist, zu kurz zu sein. Davon möchte ich heute erzählen. Von den bewußten oder unbewußten Leiden der Menschen und ihren jämmerlichen, lächerlichen, tapferen, mutigen, pathetischen Formeln und ihren Versuchen, eine Lösung zu finden. Und dann bis zum Selbstmitleid oder bis zur Selbstzerstörung in diesen Leiden zu versinken oder, in einer Prozession von Wundern, dem Aufblitzen des Zufalls, der Hoffnung, des Glücks oder des eigenen Wollens beizuwohnen, um zu einer schlüssigen Antwort zu kommen.
Aber dann, das ist der immer gleiche Punkt, an den man zurückkehrt: Eine solche Antwort findet sich nie, und genau dieses Nie-eine-Antwort-Finden ermöglicht es mir, noch einen Film zu realisieren oder ein neues Buch zu schreiben. Vielleicht liegt es letztlich an diesem Nie-eine-Antwort-Finden auf das, womit sich Kunst, Literatur, Theater, Musik, Film und unser aller Leben abmühen und dabei versuchen, den Schmerz zu lindern, Auswege zu finden aus den Qualen, aus der Geschichte, aus der Unzulänglichkeit, aus der Mühsal des Lebens. Aber es gelingt nicht, denn einem, der Tricks verwendet, kann man nicht wirklich glauben. Und doch ist die Mühe, dieses Nichtgelingen so unglaublich erregend, überwältigend und unverzichtbar. Sie ist der Motor, der nie ausgeht. Am Ende findet man niemals etwas, man beginnt von vorn. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt, sagten unsere neapolitanischen Mütter und Tanten alle resigniert, und es war das Einfachste und Wahrhaftigste, das wir je gehört hatten.
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