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Lettre International 146
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LI 145, Sommer 2024

Europas Machtrealismus

Warum Parlament und Exekutive der Union eine neue Balance brauchen

Der Krieg in der Ukraine und zuletzt der Krieg im Nahen Osten haben Europa aus seinem geopolitischen Schlaf geweckt. Die Hoffnung auf eine durch Handel und Kultur befriedete Welt scheint sich vor unseren Augen zu erschöpfen. Seit mehreren Jahren schlägt der Philosoph und Politikberater Luuk van Middelaar Alarm: Europa muß aus dem universalistischen Denken, in dem es nach 1945 Zuflucht gefunden hat, ausbrechen, die Sprache der Macht wieder erlernen und die Metamorphose einleiten, die es in einen geopolitischen Akteur verwandeln wird. Es ist an Europa, eine „Macht“ zu werden, dazu bestimmt, in das Feld der Rivalitäten mit Rußland, der Türkei, dem Iran, China und sogar den Vereinigten Staaten einzutreten, und die Koordinaten seiner Endlichkeit zu berücksichtigen. In seinen Vorlesungen am Collège de France im Frühjahr 2021 unterscheidet Luuk van Middelaar zwischen choros und topos, „abstraktem Raum“ und „konkretem Ort“, oder chronos und kairos,„Zeit als Grundlage der Chronologie der Ereignisse“ und dem „günstigen Zeitpunkt“: In beiden Fällen ist die Union aufgerufen, eine „Wende“ zu vollziehen. Im Bewußtsein des Kairos und mit klarem Blick auf den Topos muß Europa seine Interessen besser definieren, seine Grenzen abstecken und die Umrisse seines Projekts skizzieren, das nicht mehr der Liberalisierung, sondern dem Schutz dienen soll.1 Sich nicht mehr als purer Raum universeller Werte zu begreifen, ist eine Voraussetzung: Die Union zu verankern bedeutet, ihr ihr Territorium, ihre Erzählung und ihre Strategie zuzuweisen, zumal die Pax Americana hinter uns zu liegen scheint und Europa seit der Annexion der Krim 2014 mit tragischen Entscheidungen konfrontiert ist.
     Doch wie kann sich Europa in diesem neuen „machiavellistischen Moment“,2 in dem es seine Verletzlichkeit, Kontingenz und Endlichkeit erfährt, neu erfinden? Wem kann es in diesem existentiellen Moment, in dem es die Erfahrung seiner Sterblichkeit macht, die Rolle des Strategen anvertrauen?3 Und kann es in einer Zeit, in der sich eine neue Erweiterung abzeichnet, Effizienz im Handeln gewinnen, ohne sein Demokratiedefizit zu vergrößern?4 Dieser Essay verschiebt den Fokus von Machiavelli zu Montesquieu: Vorrangig gefordert ist nicht so sehr die Fixierung der Grenzen als ein neues Gleichgewicht der Kräfte, zugunsten des Europäischen Parlaments und zum Nachteil des Rates, zugunsten der föderalen Logik und zum Nachteil der intergouvernementalen Logik. Die politische Freiheit in Zeiten der Gefahr zu fördern kann nicht bedeuten, dem Europäischen Rat als Teil der Exekutive eine Blankovollmacht zu erteilen: Es ist wichtig, die Institutionen zugunsten der europäischen Bürger und der Union auszubalancieren und weniger zugunsten der Staaten. In einer Zeit, in der die europäische Außenpolitik Gefahr läuft, „unter dem Radar“ des Volkes zu fliegen, erweist sich die Notwendigkeit einer demokratischen Kontrolle.

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Die kommende Ausgabe Lettre 146 erscheint Ende September 2024