LI 147, Winter 2024
Mit Augen und Händen
Leben und Kunst im Chaos der DingeElementardaten
Genre: Gespräch / Interview
Textauszug: 3.524 von 69.649 Zeichen
Textauszug
(…)
Heinz-Norbert Jocks: Warum fühlten Sie sich Jean Tinguely so nah? Was war das Verwandte und Verbindende oder das Ferne und Trennende zwischen Ihnen?
Daniel Spoerri: Während ich mich mit dem Körper bewegte und die Bewegung aus mir heraus kreierte, griff er auf kleine Maschinen zurück, um irgendwelche Objekte in Bewegung zu versetzen. Ich hingegen habe mich selber zum Tanzmaschinchen ausgebildet. Er sprach immer von Stillstand, während ich den Stillstand durch Fixieren des Augenblicks herstellte. Als Tänzer glaubte ich an die Bewegung und daran, daß der Stillstand Bewegung provoziert, weil es im Leben keinen Stillstand gibt. Alles bewegt sich, es geht ständig voran, selbst der kleine Samen im Pfennigloch. Meine Fallenbilder verdanken sich einer Erleuchtung, die ich bei der Ausstellung Bewogen Beweging durch die kinetische Kunst hatte. Mir wurde klar, daß eine fixierte Situation, also der Stillstand, die Antithese zur Bewegung ist. So begann es. Die sogenannten Fallenbilder meiner Bankette sind nichts anderes als eine Antithese zur Bewegung, insofern ich den schönsten Augenblick eines gemeinsamen Abendessens mit Freunden plötzlich beendete und das Chaos der benutzten Gläser und Teller mit Essensresten genau so auf dem Tisch beließ, wie es in jenem Moment war, als ich verkündete: „Die Falle schnappt zu!“ Von da an durfte niemand mehr eine Gabel oder ein Glas verrücken. Um die exakte Position von allem auf dem Tisch zu bestimmen, umzeichnete ich jeden Gegenstand und fixierte mit Spezialleim alles für immer auf einer Tafel. Ich zeigte den aus der Bewegung herausgezogenen Stillstand. Das ist wie Photographieren im Gegensatz zum Filmen. Der Film, also das bewegte Bild, ändert sich fortwährend. Hingegen muß der Photograph den richtigen Augenblick erwischen, wie eine Permanenz-Szene, in der alles auf den Punkt gebracht ist, was er zu sagen hat. Cartier-Bresson war ein Meister des Augenblicks. Was für ihn die Photographie war, ist für mich das „Fallenbild“. Es besteht aus einer vorgefundenen Situation, die ich unbearbeitet, so, wie sie wirklich war, und ohne die Objekte zu berühren festhalte. Dadurch, daß ich alles so beließ, wie es war, als ich die Bewegung des Essens anhielt, wollte ich konstatierend einen Ausschnitt von Welt so bannen, wie ich ihn vorgefunden habe. Das sind die echten Fallenbilder, später schuf ich sogenannte „Falsche Fallenbilder“, die so etwas wie eine Weiterentwicklung meines früheren Konzepts qua Fälschung sind. Das heißt, ich fälschte die echten Fallenbilder, indem ich Objekte, also Löffel, Teller usw. aussuchte, wie es mir gefiel. An den falschen Fallenbildern habe ich deshalb mehr Spaß als an den echten, weil ich kreativ sein kann.
Das Besondere an den Fallenbildern ist, daß ich sie entgegen der Schwerkraft an die Wand hänge. Naiverweise glauben manche, das Fallenbild komme von Herunterfallen, weil es nicht von der Wand herunterfällt. Was ich mache, ist ein Zaubertrick, auf den ich von der Kunstwelt wie auf ein Label so festgenagelt wurde, daß darüber meine anderen Objekte, die mehr Denken voraussetzen, bis heute kaum wahrgenommen werden. Das Fallenbild ist nur die Wiederholung von etwas einmal Gedachtem, mit dem ich in die Kunstgeschichte ein-
gegangen bin.
Ein männlicher Briefmark erlebte
Was Schönes, bevor er klebte.
Er war von einer Prinzessin beleckt.
Da war die Liebe in ihm erweckt.
Er wollte sie wiederküssen,
Da hat er verreisen müssen.
So liebte er sie vergebens.
Das ist die Tragik des Lebens!
Heißt es bei Joachim Ringelnatz passend. Ich bin die Briefmarke in der Kunstgeschichte.
(…)