LI 42, Herbst 1998
Niemandsland
Die verlorene Identität der algerischen RevolutionElementardaten
Genre: Literarische Reportage / New Journalism
Übersetzung: Aus dem Dänischen von Jörg Scherzer
Textauszug
Wenn ich in europäischer Technik und Lebensstil nach dem Menschen suche, sehe ich eine Reihe von Verleugnungen des Menschen, eine Lawine von Morden... Europa hat die Führung der Welt mit Feuereifer, Zynismus und Gewalt übernommen... Europa hat jede Demut und Bescheidenheit abgelegt, aber auch alle Fürsorge, alle Vorsicht... Genossen, laßt uns Europa also nicht huldigen, indem wir Staaten, Institutionen und Verbände schaffen, die von ihm inspiriert wurden... Wir müssen das Blatt wenden, neue Ideen entwickeln und versuchen, einen neuen Menschen zu schaffen. Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde (1961)
(...)
"Dein Algerien", sagt Rafi, "gibt es nicht mehr. Es ist die größte und bestorganisierte Mafia der Welt. Kennst du den Ausdruck? Mafia?"
Ich gönne den Bündeln und Kisten und den drei vergnügten Burschen auf der Ladefläche einen freundlichen Gedanken und sage, ja, das könne gut sein, und er müsse wissen, wovon er spricht.
"Und du weißt, wie das Mafiasystem funktioniert, oder?"
"Blut für Blut."
"Mehr als das. Wer nicht dafür ist, ist dagegen. Und jemand, der dagegen ist, lebt nicht mehr so lange, daß er die Morgensonne sieht."
Der Nissan fährt um eine Felsengruppe herum, und Rafi bremst.
Vor uns stehen drei andere Trucks mit gefüllten Ladeflächen.
"Hier bleiben wir über Nacht. Das sind die Brüder aus Tébessa. Vielleicht können die dich weiterbringen."
Sie parken die Wagen, als wollten sie eine Wagenburg anlegen. Kühler gegen Kühler. Die kleine Gemeinde der freien Schmuggler. Kein Feuer in der Nacht. Nur Stimmen. Endlose Gespräche.
"Was ist los?" frage ich.
"Oben bei Bir el Ater gibt es Probleme", antwortet Rafi. "Barrikaden, erzählen meine Brüder. Die Selbstverteidigungsgruppen wüten. Alle haben Waffen. Das ist nicht gut, für dich nicht und für uns auch nicht. Wenn wir Glück haben, kommen wir morgen vielleicht bis nach Ras el Euch. Und dann sehen wir weiter."
"Und wenn wir nicht weitersehen, was dann?"
"Dann müssen wir umkehren. Das ist die Regel: Wer die Zeit hat, muß dem Widerstand nachgeben. Vielleicht ist er kurz. Aber unnötige Risiken darf man nicht eingehen."
"Was sagen deine "Brüder" über die Situation?"
Wir sind unter ein paar stinkenden, steifen Decken auf der Ladefläche des Nissans zusammengekrochen, zwischen uns den Spirituskocher. Sechs Mann mitten in der bled und der Dunkelheit. Rafi sieht sich um und fragt:
"Der Fremde möchte wissen, wie die Situation ist. Haben wir Probleme?"
In Wellen kommen die Antworten von den dunklen, verdeckten Gesichtern:
"Die Straßen sind unsicher, Bruder Rafi. Aus dem Norden fliehen Leute nach Süden. Sie sagen, man hat sie vertrieben. Die Banden der Regierung vernichten ihre Familien und treiben die Überlebenden hinunter zu uns. Und sie haben Waffen dabei. Jeder Mann hat sein Gewehr. Was ist das für eine Art, ein Land zu regieren? Früher war das nicht so. Das weiß der Fremde vielleicht nicht, aber heute ist alles anders..."
Rafi sagt, der "Fremde" sei viele Male in Algerien gewesen. Er sei zu einer Zeit hier gewesen, an die sich unter der Decke niemand mehr erinnern kann.
"Wie war es damals, Fremder?" fragt eine Stimme.
Was soll ich antworten? Daß das freie, unabhängige Algerien einmal ein ganz feines Land gewesen ist? Ich vermute, sie hören gern Geschichte.. Die Szene ist für gute Geschichten wie geschaffen. Andererseits kann ich nicht die Augen vor dem Umstand verschließen, daß Schmuggler nicht die nationalbewußtesten Elemente sind. Also beschließe ich, wieder zu Fanon zu greifen: Afrikas besitzlose Bauernmassen, die in einem Streich abrechnen mit Europa und den weißen Kolonialherren. So hat das Ganze angefangen. Vertreibt den weißen Mann, vertreibt die Machthaber, bevor sie euch vertreiben!
"So hat der große Ideologe der Revolution geschrieben und gedacht", füge ich hinzu.
Schweigen.
Rafi übersetzt.
Langes Schweigen.
Dann brechen die Stimmen in eine wahre Kakophonie aus.
Wieder übersetzt Rafi:
"Meine Brüder sagen, es gibt immer einen, der die Macht hat, und es gibt andere, die sie ihm abnehmen wollen. Und sie sagen, in der Kiste, auf der du sitzt, sind Waffen für solche, die anderen , die sie haben, die Macht abnehmen. Das ist immer ein gutes Geschäft, sagen sie. Denn eines Tages brauchen diejenigen, die die Macht verloren haben, ebenfalls Waffen, um sie zurückzuerobern. Und das ist ein noch besseres Geschäft. Denn solche, die die Macht und alles verloren haben, was sie zu sein meinten, oder alles, wonach sie verlangten, solche geben ihren gesamten Besitz, um diese Macht zurückzubekommen. Das ist blind, und es ist nicht nach Allahs Wille, denn Allah ist sehr viel größer als all die Macht, die sie im Norden angesammelt haben..."
"Im Norden!" Diese beiden kleinen Worte: Im Norden! Plötzlich, mitten in der Nacht und in der grenzenlosen bled, geht mir auf, worauf ich mich eingelassen habe. Das Land, das sich Algerien nennt, ist noch keine Nation. Die Regionen, die sogenannten willays, bekämpfen einander noch immer mit allen Mitteln. Wie viele Jahrhunderte dauerte es bis zur Bildung der europäischen Staaten? Religionskriege, dreißigjährige Kriege, Revolutionen und Bürgerkriege. Warum sollte Algerien eine Ausnahme sein? Vielleicht ist dies der besondere Fluch der ehemaligen Kolonien: Ihre Probleme zeigen sich erst nach der Unabhängigkeit. Und bis sie gelöst sind, können Jahrhunderte vergehen...
(...)