LI 103, Winter 2013
Die Wüste Gobi
Wo Dschingis Khan begraben liegt – Gedanken an Staub und KnochenElementardaten
Genre: Essay, Literarische Reportage / New Journalism, Reisebericht
Übersetzung: Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall
Textauszug: 4.547 von 23.388 Zeichen
Textauszug
(…)
Wir wollten uns das Grün anschauen, bevor die Wüste begann. In der Mitte des Abhangs fanden wir zwei Gräber, zwei Steine. Auf einem war eine Sonne eingraviert. „1927–2008“ und „1987–2010“, so lauteten die Daten. Mitten in der Steppe, auf halber Höhe des Abhangs. Daneben lagen zwei menschliche Schädel im Sand. Sie mußten von früheren Bestattungen stammen, aus einer Zeit, als man noch keine Grabsteine mit Daten aufstellte. Man trug den Körper einfach hinaus und überließ ihn dem Himmel, den Vögeln, den Tieren. Ausgetrocknet, mineralisch, weiß wie Steine lagen die Schädel da. Gereinigt von dem Leben, an das wir gewöhnt sind. Von der Wärme, die sich später in Zersetzung verwandelt. Dann bleibt nur geruchlose, glatte Kälte, die fast so lange dauern wird wie die Ewigkeit. Zumindest wie die geologische. Unten, in der Ferne, weideten die Herden. Als hätte jemand eine Handvoll Steinchen geworfen. Sie waren gekullert und erstarrt: weiß, braun, schwarz auf einer grünen Fläche, die sich bis zum Horizont zog.
Das Sterben, die Zersetzung unter freiem Himmel ließen mir keine Ruhe. Ich habe einmal Photographien einer Bestattung in Nepal gesehen. Mönche in roten Gewändern zerhackten Leichen. Mit Messern schabten sie das Fleisch ab. An den Händen hatten sie Latexhandschuhe. Sie warfen die roten Stücke in die Luft. Geier ergriffen sie im Flug. Im ersten Moment dachte ich: Barbarei. Die Mönche hatten ruhige, konzentrierte Gesichter. Sie halfen der Welt, in ihre ursprünglichen Bahnen zurückzufinden. Als hätten das menschliche Leben und der menschliche Tod zeitweilig die Ordnung ins Wanken gebracht, als wäre eine chirurgische Intervention notwendig, um die Harmonie wiederherzustellen. Weil wir nicht selbständig sterben können, weil wir Hilfe brauchen.
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Wohin gehen wir nach dem Tod? Worauf warten wir? In diesen palastähnlichen Grabmälern aus Granit und Marmor. In den Mausoleen. In diesen luxuriösen Todeshäusern. Aufbewahrt in Krypten, unter verzierten Platten, hinter schmiedeeisernen Türen. Auf Friedhöfen, die stillen Städten gleichen. Als würden wir nicht glauben, daß der Herr kommt, und müßten uns selbst um alles kümmern. Aufbewahren bis weiß nicht wann. In Häusern aus Marmor, in dunklen Wohnungen mit Terrazzoböden. Weil wir keine Hunde und keine Geier haben. Und nicht glauben, daß der Herr uns wiedererschaffen wird aus Staub, aus Rauch. Daß er uns wiederfinden wird im Atem des Hundes. Wir glauben nicht.
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Wo Dschingis-Khan begraben liegt, ist unbekannt. Höchstwahrscheinlich im Nordosten, in der Gegend, wo er geboren wurde. Man sagt, alle, die auf den Trauerzug trafen, seien getötet worden. Was mit dem Trauerzug selbst passiert ist, weiß man nicht. Vielleicht töteten die letzten, die Treuesten der Treuen, auch das Gefolge des Trauerzugs und nahmen das Geheimnis mit ins Grab. Dschingis-Khan kam aus dem Nichts und verschwand spurlos in der gebirgigen Steppe, wo sich der Fluß Onon windet und die ersten Wälder beginnen. Ist er dorthin zurückgekehrt, wo er herkam? Und hinterließ lediglich die Erinnerung an Grausamkeit und Ruhm? Ist das das Leben? Das Gedächtnis derer, die geblieben sind, und derer, die erst noch kommen werden? Gibt es nichts außer den Ereignissen, die von keinem Ding gerettet oder bewahrt werden können? Weder auf der Erde noch im Grab? Können wir anhäufen und anhäufen, und nichts schützt uns? Stapeln wir unsere Toten in Schichten in der Hoffnung, daß sie uns verteidigen, uns abgrenzen werden, wenn die Zeit da ist? Wir bauen ihnen Stätten aus Stein, damit wir einen Ort haben, wo wir hingehen können, damit sie nicht entkommen. Das Fleisch schwindet, aber die Knochen bleiben, das tröstet uns. Knochen. Um sie zu erhalten, machen wir das alles. Weil wir nicht an die Erinnerung glauben.
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Der Friedhof liegt ein Stück hinter dem Dorf, auf einer Lichtung. Das goldene, kühle Herbstlicht läßt die Gräber deutlich erscheinen wie schwarze, kalligraphische Zeichen. Der Sand ist gelb, trocken, und von Wasser, das unter der Oberfläche steht, tief im Boden, Wasser, das den Sarg und die Leiche verzehrt, kann keine Rede sein. Ich lasse sie allein, gehe ein wenig zur Seite und schaue. Leicht gebeugt steht sie über dem grauen Grabstein. Sie sollte beten, aber sie schaut nur und stellt ihn sich vor, dort unter der Erde, mit geschlossenen Augen, schlafend, mit auf der Brust gefalteten Händen, in der Pose, in der wir auf die Ewigkeit warten. Deshalb ist dieser lockere Sand so wichtig, der kein Wasser hält. Damit der Körper es trocken hat. Damit er sich nicht quälen muß, bevor die Ewigkeit kommt.
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