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Cover Lettre International, Kirstine Roepstorff
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LI 102, Herbst 2013

Erinnerungen an China

Von der Neuschöpfung der Welt im Leichenschein der Neonlichter

(...)

Etwa jede Stunde oder alle anderthalb hielten wir an einem Bahnhof. Xil, Cagan Teg, Qihreght, Gurban Obo, Sonid Youqi, Derst, Bayan Har, Ulan Had. Nicht an allen, aber drei- bis viermal. Ich stieg aus und ging die Waren in den Lädchen anschauen, die Zigaretten, deren Geschmack ich nur erahnen konnte. Alles war ärmlich und mit Staub bedeckt. Ich erinnerte mich an den Flughafen in Bratsk, die Bar mit der trostlosen Holzverkleidung und Bechern, die von der Hitze in den Händen schmolzen. Ich kaufte ein paar Kuchen, da wußte man wenigstens, was es war. Sie waren fettig und süß. Schmeckten gut, aber ungewohnt. Und ich bildete mir diesen Staub ein, obwohl es nieselte. Wir waren noch nicht weit nach China vorgedrungen, das Land fing hier gerade erst an. Hundert Kilometer von der Grenze entfernt, von diesem Erenhot, das am Tage aussah wie ein Provinznest, wie eine übermäßig in die Steppe ausgedehnte Stadt mit Wohnblocks zum Hineinwachsen und breiten, leeren Gehwegen aus glattem Stein. Für die Zukunft gebaut. An den Ecken, direkt auf der Erde, reparierten sie Fahrräder. Rikschas gab es genauso viele wie Autos. Vielleicht standen die Häuser sogar zur Hälfte noch leer. In unserem Hotel, ein Stockwerk tiefer, wohnten Arbeiter. Sie wuschen sich in einem Gemeinschaftsbad. Sie kamen von irgendeiner Baustelle und trugen orangerote Helme. Alles wartete darauf, daß die Mongolei Asphaltstraßen baute und eine Bahnlinie einführte, um das Gold und all die anderen Reichtümer abtransportieren zu können, die seit undenklichen Zeiten tief in der Steppe in der Erde ruhten. Und in die andere Richtung sollten Notizbücher gebracht werden für einen Yuan das Stück, Taschenlampen mit Kurbeln, Sonnenschutzvorrichtungen für Autos, aus Plastik, mit Saugnäpfen, mit Tiger- oder Papageienmuster zur Auswahl. Weil alle Völker und Nationen ihr Leben verändern wollen. In der Dämmerung gingen in der halbleeren Stadt Neonlichter an. Es handelte sich nicht um Reklame oder Schriftzüge, es waren nur farbige Linien, die an den Umrissen der Häuser entlangliefen. An den Rändern der Dächer entlang, um die Fenster herum, senkrecht die Schlankheit der Gebäude betonend, waagerecht ihre Breite. Die Lichtkonturen vervielfachten die ohnehin schon zu große, über das Ziel hinausschießende Architektur, die auf die Zukunft wartete. Für wen also brannten sie? Gelb, rot, violett, grün, blau. Sendeten sie ihren luziferischen Glanz ins Dunkel der mongolischen Wüste? In den Kosmos? Nach dem Motto: Es beginnt eine neue Ära? Straßenlaternen gab es nicht viele, hauptsächlich erleuchteten diese phosphoreszierenden Lichter die Stadt. Der Bahnhof leuchtete golden und metallen. Um zehn Uhr war keine Menschenseele unterwegs, nur zwei Alte. In ihren langen Gewändern, die an einen schmutzigen Kontusz erinnerten, der in der Taille von einem schäbigen Gürtel zusammengehalten wurde, sahen sie aus wie aus der Geschichte oder einem Stück von Beckett entsprungen. Sie hatten irgendwelche Bündel bei sich und unterhielten sich laut. Im Leichenschein der Neonlichter, in der schwarzen Leere des Platzes wirkte ihre Anwesenheit irreal und heldenhaft zugleich. Sie schritten durch diesen falschen Glanz, als schritten sie durch ihre Wüste. Alte Männer aus einem Nomadenstamm. In dunkelroten, verschlissenen mongolischen Deels.

Später las ich, daß die Stadt nicht ganz 16 000 Einwohner zählte. Sie war um ein Vielfaches größer konzipiert. Darin hätten auch hunderttausend Platz finden können. Sie war nicht verlassen. Sie wartete. Wie das ganze Land. Wie das Land hatte sie eine Mission. Sie sollte die Wünsche und Bedürfnisse der Welt befriedigen. Durch ihre jetzt im Halbschlaf liegenden Eingeweide sollte all das ziehen, was die Menschen sich erträumen. Durch Erenhot sollte der schillernde Fluß der Weltvervielfältigung fließen. Der Transport der Neuen Schöpfung. Dieses unfaßbare Land mühte sich wie ein kosmischer Drei-D-Drucker, um uns alles zu liefern, was wir bisher nicht hatten. Hier wurde die Antwort auf das Rätsel unseres Daseins geboren, auf das Geheimnis der Existenz: Es ließ sich nicht ergründen, aber produzieren. Ding um Ding, Form um Form, Wunsch um Wunsch.

Wenn ich durch die chinesische Peripherie und die chinesischen Läden irrte, konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß all das auf den Augenblick zustrebte, da dieser Leviathan in der Lage sein würde, aus rosa Plastik, aus Gummi und Folie auch unsere Gedanken und unsere Träume herzustellen.

(...)

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.