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Cover Lettre International 68, Ulay
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LI 68, Frühjahr 2005

Buch oder Leben

Wir vergessen gern, daß Bücher außerordentlich gefährdet sind und beseitigt oder zerstört werden können. Wie alle anderen Werke des Menschen haben sie ihre Geschichte – eine Geschichte, deren Ursprung bereits den Keim eines möglichen und vorstellbaren Endes in sich trägt.

Von jenen Anfängen wissen wir wenig. Im alten China reichen rituelle oder didaktische Texte wahrscheinlich bis ins 2. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung zurück. Die schriftlichen Verwaltungs- und Handelsdokumente Sumers sowie die Protoalphabete und Alphabete des östlichen Mittelmeerraums bezeugen eine komplexe Entwicklung, deren genaue Chronologie uns noch nicht zugänglich ist. Die ersten „Bücher“ in unserer abendländischen Tradition sind Gesetzestafeln, Handelsregister, ärztliche Rezepte oder astronomische Vorhersagen. Die Geschichtschroniken, die eng mit einer triumphalistischen Architekturform und vom Rachegeist beseelten Gedenkfeiern zusammengehören, sind ganz offenbar all dem vorausgegangen, was wir „Literatur“ nennen. Das Gilgamesch-Epos und die ältesten datierten Teile der hebräischen Bibel stammen aus späten Zeiten, so daß sie Joyces Ulysses weitaus näher als ihren eigenen Ursprüngen sind, die an den archaischen Gesang und die mündliche Erzählung rühren.

Die Schrift läßt einen Archipel aus dem weiten Meer der menschlichen Oralität hervortreten. Die Schrift stellt, ohne daß man überhaupt auf die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Buches eingehen muß, einen Spezialfall, eine besondere Technik innerhalb eines weitgehend oralen semiotischen Komplexes dar. Zehntausende Jahre vor der Entwicklung der schriftlichen Ausdrucksmittel erzählte man Geschichten, gab man religiöse und magische Lehren auf mündlichem Wege weiter, verfaßte und übermittelte man Beschwörungsformeln für den Liebeszauber oder Bannflüche. Eine bunte Fülle von ethnischen Gemeinschaften, kunstvoll ausgestalteten Mythologien und traditionellen Naturkenntnissen sind  unabhängig von jeder Form der Alphabetisierung bis in unsere Zeit überliefert worden. Es gibt wohl keinen Menschen auf dieser Erde, der nicht  irgendeine Beziehung zur Musik unterhielte. Offenbar besitzt die Musik als Gesang oder Instrumentalvortrag einen wahrhaft universalen Charakter. Sie ist die grundlegende Sprache, um Gefühle und Bedeutungen mitzuteilen. Der größte Teil der Menschheit liest keine Bücher. Aber er singt und tanzt.

Unsere abendländische Sensibilität und unsere gewohnten inneren Bezugspunkte haben noch heute eine doppelte Quelle: Jerusalem und Athen. Genauer gesagt: Unser geistiges und ethisches Erbe, unsere Deutung der Identität und des Todes gehen unmittelbar auf Sokrates und Jesus von Nazareth zurück. Keiner von beiden hat sich dazu bekannt, ein Autor zu sein, und an die Veröffentlichung von Büchern haben sie erst recht nicht gedacht.

In Sokrates’ Äußerungen, die in den Dialogen Platons, einem unerschöpflich vielschichtigen und ergiebigen Arsenal, sowie in Xenophons Lebenserinnerungen wiedergegeben sind, findet man insgesamt nur einen oder zwei flüchtige Hinweise auf die Benutzung eines Buches. Einmal verlangt Sokrates, daß man die Zitate eines älteren Philosophen in dem entsprechenden Manuskript nachprüfte. Davon abgesehen gehört der wesentliche Teil der Lehre und des beispielhaften Schicksals des Sokrates, wie sie Platon schildert und auf die sich später die in dieser Tradition stehenden Denker, wie etwa Aristoteles, berufen, dem mündlichen Sprachbereich an. Sokrates schreibt nicht, er diktiert nicht.

Hierfür gibt es entscheidende Gründe. Daß man sich Auge in Auge gegenübersteht, daß man die mündliche Kommunikation in öffentlichen Räumen pflegt, hat eine wesentliche Bedeutung. Die sokratische Methode gehört von vornherein zur Oralität, bei der die reale Begegnung, das Auftreten, die persönliche Anwesenheit des Gesprächspartners unentbehrlich sind. Mit einer Kunst, die der Shakespeares oder Dickens’ vollkommen ebenbürtig ist, veranschaulichen die Dialoge Platons das körperliche Medium jedes artikulierten Diskurses. Sokrates’ wohlbekannte Häßlichkeit, seine unglaubliche physische Ausdauer bei Schlachten oder Trinkgelagen, seine gestische Rhetorik und seine Handhabe der Ruhezeiten – die Aufeinanderfolge von Spaziergängen und Pausen –, die ihn zu seinen Fragen und Meditationen veranlaßt, all dies verkörpert das Erscheinen („bringt in den Körper”, hätte Shakespeare gesagt) des Arguments und des Sinns. Bei Sokrates sind selbst der abstrakteste Gedanke und die unergründlichste Allegorie mit der persönlichen Erfahrung verbunden, die mit jeder stummen Textualität unvereinbar ist. Das faszinierende Charisma, das Sokrates’ Geliebte und Schüler in seinen Bann zieht, die verwirrende Beharrlichkeit, mit der er die Grundlagen der menschlichen Bestrebungen und die Verlogenheit des Menschen aufdeckte, was seine Verleumder wahnsinnig macht – all dies beruht einzig auf Mitteln, die sich aus dem Zusammenspiel seiner Stimme und seiner Mimik ergeben, auf exzentrischen Szenarios. Wenn Sokrates unvermittelt seine Haltung ändert und plötzlich, in einem unpassenden Augenblick und an einem ungeeigneten Ort, in tiefes Nachdenken versinkt, kommt dem für die Anwendung seiner Lehre ebenso wesentliche Bedeutung zu wie den tatsächlich geäußerten Worten.

Die Kritik, die Platon im Phaidros an der Schrift übt und die in einem wohlbekannten ägyptischen Mythos verdichtet ist, gibt zweifellos seine Ansicht über die von seinem Lehrer benutzten paradoxen Methoden wieder. Wie immer läßt sich in Platons Auffassungen jedoch ein ironischer Unterton finden: War er nicht selbst ein einzigartiger Schriftsteller und der Autor eines umfangreichen Werks? Dennoch sind die in diesem Mythos gegen die Schrift vorgebrachten Argumente höchst aussagekräftig und bleiben vielleicht bis heute unwiderlegbar.

Im geschriebenen Text, ob er nun aus einem Tontäfelchen, aus Marmor, Papyrus oder Pergament besteht, ob er in Knochen geritzt, eine Rolle oder ein gedrucktes Buch ist, gibt es immer ein Höchstmaß an Autorität. (Wie sein lateinisches Etymon auctoritas enthält dieser Begriff das Wort „Autor”.) Die bloße Tatsache des Schreibens, die Entscheidung für eine schriftliche Vermittlung, impliziert den Anspruch auf etwas Meisterhaftes und Kanonisches. Jeder schriftliche Text hat etwas von einem Vertrag, was bei jedem theologischen und liturgischen Dokument, jedem juristischen Kodex und jeder wissenschaftlichen Abhandlung oder jedem technischen Lehrbuch offensichtlich ist und bei komischen oder tagesaktuellen Texten ebenfalls stark, allerdings subtiler wirkt, ja sich sogar selbst in Frage stellt. Der Text bindet den Autor und seinen Leser an das Versprechen, daß ein Sinn enthalten sei. Ihrem Wesen nach ist die Schrift normativ. Sie wirkt „präskriptiv”, und der konnotative und semantische Reichtum dieses Begriffs hat besondere Aufmerksamkeit verdient. Praescribere („vorschreiben”) bedeutet „ordnen”, das heißt einen Verhaltens- oder Interpretationsbereich des geistigen oder gesellschaftlichen Konsenses vorwegnehmen und umschreiben (circumscribere, ein weiterer vielsagender Ausdruck). Die Begriffe „Inschrift”, „Skript”, „Schriftgelehrter“ und das sehr produktive Wortfeld, zu dem sie gehören, verbinden den Schreibakt eng und unausweichlich mit Herrschaftsformen. Der verwandte Begriff „Proskription“ klingt nach Ächtung oder Tod. Die von der Schrift abhängigen Akte, die gleichsam wie Reliquien in die Bücher eingeschlossen sind, begründen, selbst wenn sie sich hinter einem leichtfertigen Äußeren verbergen, alle möglichen Arten von Machtverhältnissen. Der von Klerus, Politik und Gesetz über Analphabeten oder mangelhaft Alphabetisierte ausgeübte Despotismus bringt lediglich diese absolut gültige Grundwahrheit zum Ausdruck. Die in einem Text enthaltene Bedeutung der Autorität, die Aneignung und der ausschließliche Gebrauch dieser Texte durch eine Elite von Gebildeten sind Zeichen der Macht. Die angeketteten Bände der mittelalterlichen Klosterbibliotheken vermitteln eine beunruhigende Wahrheit. Die Schrift fesselt die Bedeutungen.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.