LI 49, Sommer 2000
Im Schattenland der Poesie
Stimmen zwischen Ich und Welt vernehmen...Elementardaten
Genre: Gespräch / Interview
Übersetzung: Aus dem Englischen von Clemens Umbricht
Textauszug
Wallace Shawn: Ich hatte begonnen, die Sachen zu lesen, die dieser Typ über dich geschrieben hat. Aber es hat mich genervt. Er sprach ständig von den Themen in deinen Gedichten, und ich verstand ihn einfach nicht. Ich glaube, die Vorstellung von "Themen" ist mir grundsätzlich unverständlich. Ich werde dir deshalb im Verlauf unseres Gesprächs keine Fragen stellen wie: "Was ist deine Ansicht über das Nichts?" Ich verstehe sie nämlich selbst nicht.
Mark Strand: Auch ich verstehe sie nicht. Und ich bin mir im übrigen keineswegs sicher, ob ich überhaupt so etwas wie eine Ansicht über das Nichts habe. Das Nichts erlaubt keine Beschreibung von sich. Wenn man beginnt, es zu beschreiben, hat man ja schon ein Etwas.
So oder so: Lesen wir Gedichte, weil wir an bestimmten "Themen" interessiert sind? Oder lesen wir, um Auskunft darüber zu erhalten, wie jemand die Welt sieht? Wollen wir herausfinden, ob der Dichter, den wir lesen, die Welt so sieht wie wir?
Man liest keine Gedichte, um von der Wahrheit zu hören, die im Alltag als Wahrheit gilt. Man liest keine Gedichte, um den Weg zur 24. Straße zu finden. Man liest keine Gedichte, um den Sinn des Lebens zu finden. Im Gegenteil. Ich glaube, man wäre dumm, wenn man das täte. Gewiß, einige amerikanische Dichter präsentieren sich ihren Lesern mit einem Ausschnitt aus dem sogenannten wahren Leben, wenn sie etwa sagen: "Heute ging ich in einen Laden, ich sah einen Mann, er sah mich an und ich sah ihn an, und wir beide wußten, wir sind ... Diebe. Und sind wir nicht alle Diebe, irgendwie?" Weißt Du, damit gewinnt man vielleicht aus der Alltagserfahrung eine mehr oder weniger gültige Aussage über das Leben, oder eine Moral. Aber es gibt eine andere Art von Poesie: Mit ihr vermittelt der Dichter dem Leser eine zweite Welt, durch die er die unsere neu sieht. Im 20. Jahrhundert war Wallace Stevens der Meister dieser Art von Poesie. Es gibt keine andere Dichtung, die so klingt wie diejenige von Wallace Stevens. Allerdings gibt es auch nichts, das so klingt wie ein Gedicht von Frost. Oder eines von Hardy. Dichter wie sie haben ihre eigenen Welten erschaffen. Ihre Sprache ist so kraftvoll und einzigartig, daß man ihre Gedichte nicht liest, um Sinn oder Wahrheit der eigenen Erfahrung der Welt zu überprüfen, sondern weil man sich an ihren einzigartigen Stimmen nicht satthören kann.
Deine Lyrik gehört ganz offensichtlich in diese Kategorie. Wenn man ein Gedicht von dir liest, ist man zuerst von der Stimme eingenommen – und wird in die Welt verführt, die du erschaffen hast. Ich glaube, zu Beginn können wir uns die einzelnen Szenen noch mehr oder weniger vorstellen, obwohl sie aus Elementen bestehen, die uns in unserer Alltagswelt so nie begegnen. Manchmal – recht oft, um ehrlich zu sein – erreichen wir aber einen Punkt, der sozusagen Zenon-artig ist, einen Punkt, an dem der Autor uns Dinge vorführt, die entweder Widersprüche in sich selbst oder völlig unvorstellbar sind. In einem surrealistischen Bild könnte uns der Maler wohl eine sehr bizarre Landschaft vorführen, aber sie wäre nicht so bizarr wie die Landschaft in deinen Gedichten. Sie könnte nicht gemalt werden.
Nun, ich glaube, was in meinen Gedichten an gewissen Stellen passiert, ist, daß die Sprache die Führung übernimmt – und ich derjenige bin, der ihr folgt. Es klingt dann einfach richtig, und ich vertraue dem, was ich sage, auch dann, wenn ich mir nicht ganz sicher bin, was ich sage. Ich bin bereit, es dabei zu belassen. Wenn ich mir absolut sicher wäre, wovon ich in meinen Gedichten spreche, wenn ich sicher wäre und es nachprüfen und berichtigen und es ganz genau erklären könnte, ja, genau das habe ich gesagt, weil ich es ganz bewußt sagen wollte, dann wäre das Gedicht vermutlich nicht klüger als ich. Ich glaube, das Gedicht wäre dann genau darauf reduzierbar. Es ist aber dieses "Darüberhinausgehen", diese zusätzliche Dimension, die man in einem Gedicht erreichen kann, die einen immer wieder zu ihm zurückkehren läßt. Und man wundert sich: Das Gedicht schien am Anfang so natürlich, wie ist man dahin gekommen, wo man hingekommen ist? Was ist passiert? Ich mag das, ich mag es auch, wenn es in anderen Gedichten passiert. Ich mag das Geheimnisumwitterte, weil es der Ort ist, der unerreichbar bleibt oder geheimnisvoll, der Ort, an dem das Gedicht uns gehört, an dem es zum Eigentum des Lesers wird. Ich meine, im Akt des Vorstellens, im Verfolgen der Spur seines Sinns, absorbiert der Leser das Gedicht, und das gerade auch dann, wenn im Gedicht eine Abwesenheit im Mittelpunkt steht. Aber damit muß der Leser leben. Und mit der Zeit wird sie sogar unentbehrlich, diese Abwesenheit, so daß etwas jenseits seines Verstehens, jenseits seiner Erfahrung, etwas, an das seine Erfahrung nicht heranreicht, mehr und mehr in ihn selbst übergeht. Verstehst du, er gelangt in den Besitz eines Geheimnisses – etwas, das wir uns im Leben sonst nicht erlauben.
Das wir uns nicht erlauben?
Ich meine, wir leben mit Geheimnissen, aber wir mögen das Gefühl nicht, daß wir es tun. Ich denke aber, wir sollten uns daran gewöhnen. Wir spüren, daß wir wissen müssen, was die Dinge bedeuten, um auf der Höhe von diesem oder jenem zu sein. Ich glaube aber nicht, daß es eine sehr menschliche Eigenschaft ist, dem Leben gegenüber so kompetent aufzutreten. Diese Haltung hat jedenfalls nur sehr wenig mit Poesie zu tun.
Die Erfahrung, vollständig von Geheimnisvollem umgeben zu sein, machte ich, als ich die erste Hälfte von Heideggers Sein und Zeit las. Verstehst du, man war dabei ganz sich selbst und der eigenen Vorstellungskraft überlassen. Und ob die Bilder im eigenen Kopf tatsächlich den Vorstellungen Heideggers entsprachen - wer könnte das sagen?
Nun, wenn ich Gedichte lese, kann ich mir nicht vorstellen, daß das, was im Kopf des Lesers ist, auch das ist, was im Kopf des Dichters ist. Im Kopf des Dichters ist normalerweise sehr wenig vorhanden.
Meinst du ...
Ich meine, die Realität des Gedichts ist eine sehr gespenstische. Es versucht gar nicht erst, die Konkretheit zu erreichen, die in Romanen angestrebt wird. Es verlangt nicht von dir, daß du dir einen Ort im Detail vorstellst; aber es suggeriert ihn, es suggeriert ihn wieder und wieder. Das heißt, in meinem Lyrikverständnis ist es so. William Carlos Williams hatte andere Vorstellungen davon.
Aber suggerierst du dem Leser etwas, das du dir genau so vorgestellt hast?
Ich stelle es mir vor, während ich schreibe. Ich stelle zusammen, was ich brauche, um den vorgestellten Gegenstand zum Leben zu erwecken. Manchmal gelingt mir dies besser, manchmal schlechter.
Wenn du sagst, daß beim Schreiben die Sprache die Führung übernimmt und du ihr folgst, dann heißt das, daß Schreiben für dich, mindestens bis zu einem gewissen Grad, ein passiver Vorgang ist. Von irgendwo kommt etwas, und du bist der Empfänger. Aber woher kommt es? Kommt es aus dem Unterbewußten? Dann wären wir bei der Psychoanalyse. Aber es kommt von anderswo, nicht wahr? Oder ...
Ich weiß nicht, woher es kommt. Ich denke, einiges kommt aus dem Unterbewußten. Anderes ist ganz bewußt. Wieder anderes kommt von ... weiß Gott woher.
Ich denke, das "Weiß Gott woher" ist ganz ...
Gedichte sind keine Träume. Das stimmt einfach nicht. Leute, die ihre Träume niederschreiben und glauben, es handle sich schon um Gedichte, liegen falsch. Es handelt sich weder um Träume noch um Gedichte.
Während du schreibst, horchst du auf etwas. Aber dann, von einem gewissen Punkt an, übernimmst du eine aktive Rolle beim Verfassen des Gedichts.
Ich werde dahin mitgerissen, wohin sich das Gedicht bewegt, solange ich nicht weiß, wohin es sich bewegt. Ich will es aber wissen, und ich will es weitertreiben, jedenfalls ein Stück weit. Ich füge ein paar Worte hinzu, und dann sage ich: "Oh nein – ich bin auf der falschen Fährte."
Die Art der Gedichte, über die du sprichst, kann für Leser sehr frustrierend sein. Eine Menge Leute, die ich kenne, gehen davon aus, daß das Grundmodell des Lesens in der Lektüre der New York Times besteht. Jeder Satz muß einem klar definierten Ausschnitt der Realität entsprechen. Mit dieser Erwartungshaltung sind deine Gedichte ...
Nun, manchmal sind Gedichte eben nicht einfach Darstellungen der Realität. Manchmal existiert ein Gedicht als das ganz Andere im Universum, als etwas, dem man so noch nie begegnet ist. Wenn man von einem Gedicht erwartet, daß es genau das sagt, was es meint, direkt und ohne Umschweife – und natürlich handelt es sich dabei um die persönlichen Erfahrungen eines Dichters – , nun, ein derartiges Gedicht versetzt dich lediglich in die Welt, die du bereits kennst. Es läßt die Welt ein bißchen angenehmer erscheinen, weil da jemand ist, der die gleichen Erfahrungen wie du gemacht hat. Aber die kleinen Anekdoten, die wir in derartigen Texten lesen, und von denen wir sogar glauben, daß sie wahr sind, sind in Tat und Wahrheit reine Fiktionen. Sie geben eine Reduktion der wirklichen Welt wieder. Vieles erleben wir als selbstverständlich – wir müssen nicht Gedichte lesen, damit es noch selbstverständlicher wird. Leute wie John Ashbery oder Wallace Stevens tun genau das Gegenteil: Sie versuchen, diese Reduktionen zu sprengen. Ashbery zum Beispiel zielt auf perfekte Trugschlüsse ab, er führt uns fortwährend in die Irre. Er schafft eine Welt aus Bruchstücken, die die Wirklichkeit nicht einfach imitieren. Von einem anderen Blickwinkel aus betrachtet, könnte man natürlich auch sagen, daß diese Welt nur so fragmentiert und unvorhersehbar ist wie die Welt, in der wir uns täglich bewegen. Menschen, die die Wirklichkeit auf eine neue Weise zusammensetzen, haben etwas Erheiterndes, nicht wahr? Normalerweise klammern wir uns in einem hohen Maße daran, daß unsere Erfahrungen vorhersagbar sind. Es gibt keinen besseren Weg, dem zu entkommen, als das Lesen bestimmter Dichter. Wenn ich Gedichte lese, will ich spüren, wie ich plötzlich größer, weiter werde ... in Berührung bin mit – oder jedenfalls näher bei – dem, was ich als magisch, als verblüffend empfinde. Ich will eine Art Verzauberung erleben. Und wenn ich dann, nach der Erfahrung der Fremdheit dieser in der Tiefe der Dichterseele neu kombinierten und geordneten Welt, wieder ins alltägliche Leben zurückkehre, erscheint es irgendwie frischer und schöner. Der aus dem Kontext herausgelöste Alltag ist erfüllt von der Stimme des Dichters. Das ist das eine. Das andere ist, daß er plötzlich unendlich viel lebendiger erscheint und weniger von Routine bestimmt.
Natürlich, wenn man so über Dichtung spricht, geht man von der Annahme aus, daß der Leser beim Akt des Lesens ganz bestimmte Anstrengungen unternimmt – im Unterschied beispielsweise zum Schreiben für das Theater, wo es für die Kollegen eher üblich ist zu sagen: "Die Leute verstehen dies oder das nicht. Erkläre es ihnen."
Ich denke, ein Lyriker schreibt ein Gedicht nicht mit dem Gefühl, daß er schon beim ersten oder zweiten Lesen verstanden werden muß. Er schreibt es in der Hoffnung, daß es mehr als ein- oder zweimal gelesen wird und sich seine Bedeutung mit der Zeit entschlüsseln läßt oder sich selbst entschlüsselt.
Wenn du sagst, du hoffst, daß ein Gedicht mehr als ein- oder zweimal gelesen wird, was meinst du damit? Wie oft liest du ein Gedicht?
Wenn ich Gedichte schreibe, lese ich sie Hunderte von Malen. Wenn ich Gedichte anderer lese, tue ich es ein paar Dutzend Mal, manchmal auch mehr. Das erscheint mir keineswegs ungewöhnlich. Der durchschnittliche Kirchgänger hat dieselben Passagen der Bibel wohl Hunderte von Malen gelesen, und jedesmal haben sie sich ihm ein Stück weiter erschlossen.
Wahrscheinlich durchläuft ein Schauspieler beim Erarbeiten einer Rolle einen vergleichbaren Prozeß. Vermutlich ist auch das Darstellen eines Charakters eine Form des Lesens. Der Schauspieler geht seinen Text unzählige Male durch, entdeckt von Zeile zu Zeile weitere Sinnebenen und Deutungsmöglichkeiten, und gleichzeitig durchschaut er die Klischees, die er dem Text beim ersten Lesen übergestülpt hat.
Nun, ein guter Leser von Gedichten mag sehr wohl eine Art Schauspieler sein, der sich in eine Rolle einarbeitet. Wie der Schauspieler liest er nämlich das Gedicht immer wieder laut vor und lernt es manchmal auswendig. Das geht so weit, daß das Gedicht zu einem Teil von ihm geworden ist.
Der Darsteller durchlebt das Stück immer wieder neu. Nicht so das Publikum. Theaterstücke sind ja nicht dasselbe wie Gedichte. Sie werden in der Annahme geschrieben, daß jeder Satz unmittelbar einleuchten muß.
Nun, die Bedeutung des Theaters liegt darin, daß es für ein größeres Publikum gedacht ist und vieles im ersten Anlauf, in der ersten Begegnung vermittelt werden muß. Ein Gedicht verbirgt sich oft, es erschließt sich dem Bewußtsein des Lesers nur langsam – manchmal beinahe quälend langsam mit Rhythmus und Tonfall, mit Wortverbindungen, die den Leser schön anmuten. Natürlich, was das Schöne ist, weiß der Himmel. Ich weiß es nicht. Schön wird in fünfzig Jahren das sein, was heute häßlich oder unerträglich ist oder kaum toleriert wird. Wie auch immer, weißt du, ich glaube, wenn man zu sehr darauf bedacht ist, vom Publikum unmittelbar verstanden zu werden, dann achtet man zu sehr auf den Augenblick und zollt dem Status quo zu viel Tribut. Der Dichter besitzt nicht in erster Linie eine Verpflichtung gegenüber dem Publikum, sondern gegenüber der Sprache – der Sprache, von der er hofft, daß er sie immer wieder neu beleben kann. Wenn man bedenkt, wie lange es dauert, bis sich zwei Menschen verstehen - und wieviel unnötiges Gewicht wir im Laufe unseres Lebens vielen anderen Wissensbereichen verleihen -, warum können wir dann mit der Poesie nicht ein wenig, nur ein wenig geduldiger sein?
Vielleicht besitzt der Leser der New York Times nicht ganz die richtige Geistesverfassung, um Gedichte zu lesen?
Nun, man kann nicht erwarten, von der New York Times auf direktem Weg zum Werk von John Ashbery oder Jorie Graham zu gelangen. Die Sprache wird auf ganz unterschiedliche Weise einer Bewährungsprobe ausgesetzt und zu einem ganz anderen Zweck verwendet. Die Sprache des Gedichts verlangt, daß man über sie nachdenkt. Man muß den psychischen Raum für Dichtung freihalten, und zwar anders, als man es für Prosa tut. Es ist ein Raum, in dem sich die Wörter drohend auftürmen. Und dieser freigeschaffene psychische Raum, der sich einem lyrischen Text öffnet, ermöglicht es erst, daß wir das Gedicht nicht nur lesen, sondern auch hören können.
Aber wie kann man einen derartigen psychischen Raum herstellen?
Nun, wenn man sehr viel Zeit allein verbringt, wenn man über das eigene oder das Leben anderer nachdenkt, dann kennt man ihn bereits, diesen Raum, von dem ich spreche. Ich kenne einige Maler, denen Gedichte sehr viel bedeuten. Das ist wahrscheinlich deshalb so, weil sie viel Zeit allein vor ihren Leinwänden verbringen, ohne mit jemandem zu sprechen. Auf diese Weise sind sie darauf vorbereitet, sich auf Gedichte einzulassen. Ihre Gedanken sind nicht voller Lärm und Durcheinander und unerfüllter Wünsche. Ich denke, man muß Gedichte ja vor allem lesen wollen, das heißt: man muß ihnen mindestens den halben Weg entgegengehen. Wenn sie zu irgend etwas gut sein sollen, dann muß das genügen. Gedichte haben schließlich ihre Würde. Ein Gedicht soll ja nicht darum betteln müssen, daß man es liest; das wäre ziemlich armselig. Gewiß, einige Lyriker fürchten, nicht gehört zu werden, wenn sie ihre Leser nicht ständig umschmeicheln, wenn sie nicht, um im Bild zu bleiben, bereits 90 Prozent des Weges vorausgegangen sind und ihren Lesern die ganze Arbeit abgenommen haben. Aber das ist, wie gesagt, armselig.
Verflixt. Jetzt mache ich mir wirklich Sorgen, daß wir nicht in der richtigen Welt leben, um zu lesen, was ihr schreibt, du und die Dichter, die du bewunderst.
Nun, Dichtung - jedenfalls lyrische Dichtung - versucht, uns in unserem Ich neu zu lokalisieren. Aber alles, was wir heutzutage wollen, ist, uns entfliehen. Niemand will zu Hause bleiben und nachdenken. Man will zu Hause bleiben und fernsehen, das schon. Oder man will ausgehen und Spaß haben. Aber Spaß haben ist normalerweise keine sehr meditative Tätigkeit. Es hat nichts damit zu tun, einmal gemachte Erfahrungen zu überdenken und herauszufinden, wer man selbst oder wer der andere ist. Spaß haben hat mit Energieverbrennen zu tun. Wenn man ins Kino geht, wird man mit Spezial-Effekten und monströser Action überschüttet, und das mit atemberaubender Geschwindigkeit. Man hat gar keine Zeit, um über die vorangegangene Szene nachzudenken, geschweige denn, im Geschehen zu verweilen - da ist immer schon der nächste Thrill.
Es ist seltsam, wir stürzen uns, jeder einzelne, in eine Vielzahl von Vergnügungen, und am Ende stellt sich heraus, daß all die scheinbar so verschiedenen Zerstreuungen doch sehr vieles gemeinsam haben.
Wir wollen offensichtlich sofortige Befriedigung. Filme mit Gewalt vermitteln sofortige Befriedigung. Auch Drogen. Auch Sportereignisse vermitteln sofortige Befriedigung. Ebenso Prostituierte. Offensichtlich wollen wir das. Für das, was wir uns mit Anstrengung erarbeiten müssen, was sich erst nach einiger Zeit in seiner ganzen Tiefe offenbart, für das, was mit Lernen, mit Geduld und Handwerk - und Lesen ist ein Handwerk -verbunden ist, fehlt uns offenbar die Zeit. Wir vergessen, daß auch die langsameren Vergnügungen voller Spannung sein können, eine Spannung, die größer wird, je mehr Zeit wir ihnen einräumen.
Bei den Tätigkeiten, die du erwähnst, handelt es sich nicht um verbale Tätigkeiten. Vielleicht gehört die Sprache im allgemeinen zur Verliererin in den absurden Wettbewerben unserer Welt.
Nun, auf der anderen Seite sprechen wir ja miteinander. Und wir lesen verschiedene Formen von Geschriebenem, nicht nur Dichtung. Wenn wir keine Wörter benutzen könnten, wären wir sehr einsam. Wir sind von ihnen abhängig. Wir hängen sogar in ganz besonderer Weise von ihnen ab. Und diese Abhängigkeit beschränkt sich nicht nur auf die Lyrik.
Vielleicht weichen die meisten Leute der Dichtung aus, weil sie ihnen Furcht einflößt oder sie verunsichert.
Sie wollen die Nähe des Unbekannten nicht spüren - oder des Geheimnisvollen. Es ist zu sehr mit dem Tod verwandt, es wirkt bedrohlich. Es deutet die Möglichkeit an, daß man schon an der nächsten Straßenecke die Kontrolle verlieren könnte.
Wenn du sagst, dem Tod verwandt ...
Nun, wenn ich vom Unbekannten rede - der Tod ist der große Unbekannte. Ich meine, die meisten lyrischen Texte führen dazu, daß wir uns unserer Sterblichkeit bewußt werden. Tatsächlich handeln die meisten Gedichte von dunklen und trostlosen Geschichten, die mit Sterben oder Tod oder anderen Formen von Verlust zu tun haben - Liebesverlust, Verlust von Freunden, Verlust des Lebens. Wir müssen dem Faktum ins Auge sehen, daß unser Leben im Tod endet; deshalb - und sofern man ernsthaft über das eigene Leben und die Erfahrung des In-der-Zeit-Seins nachdenkt - sind die meisten Gedichte traurig. Alles an einem Gedicht, die Versform genauso wie die Silbenzahl, ruft uns den Tod in Erinnerung, selbst eine Zeile mit dem Refrain: Hier sind wir wieder. Ich glaube, die Popularität von Villanellen oder anderen Gedichten mit Refrain rührt daher, daß sie sich der Zeit entgegenstemmen und das, wovon das Gedicht handelt oder worum es in ihm geht, für einen Augenblick suspendieren. Obwohl die Gedichte von Tod oder Sterben handeln, jubelt uns ihr Refrain zu: Noch sind wir da, noch sind wir nicht abgetreten. Aber am Ende hilft uns das nur, den Verlust im Gedicht festzuhalten. Es hilft uns, die Erinnerung an ihn wachzuhalten.
In einigen deiner Gedichte scheint der Tod ein sehr verstörendes Ereignis zu sein, in anderen ist er, scheint es, kein so großes Übel.
Er ist unvermeidlich. Ich spüre, wie ich mich langsam auf ihn zu bewege. So ist es auch in meinen Gedichten. Manchmal denken die Leute, ich sei ein seltsam trübsinniger Typ. Ich glaube aber überhaupt nicht, daß ich trübsinnig bin. In meinen Gedichten sage ich die ganze Zeit über Haha zum Tod.
Dr. Dorn in Tschechows Möwe sagt an einer Stelle: "Die Angst vor dem Tod ist eine animalische Angst. Man muß sie unterdrücken."
Wir sind Tiere, oder etwa nicht? Oh ja, wir können die Angst kurzfristig überspielen. Wir denken ja nicht immer an sie.
Persönlich denke ich immer, daß das Leben das Überraschende ist. Die meisten Dinge um uns sind tot und waren es schon immer. Steine, Wasser, Sand usw. Und dann kommt plötzlich ein Eichhörnchen zur Welt. Wir kommen zur Welt. Das Leben sprudelt kurz auf. Und dann endet es wieder. Warum sollte es das nicht? Ich meine, diese animalische Angst, die ich vor dem Tod habe, wenn ich mitten in der Nacht aufwache und mir einbilde, ich litte an einer unheilbaren Krankheit ...
Dank ihr hält sich das Leben am Leben.
Gewiß, es gehört zu den Vorteilen der Evolution, diese Angst zu haben. Aber einmal abgesehen von dieser ziemlich dummen Angst ...
Nun, es ist immerhin die Angst, nicht mehr da zu sein.
Ich glaube, ich bin wahrscheinlich zu dumm, mir darüber Gedanken zu machen.
Oh, die mache ich mir auch nicht. Aber ich würde nicht jetzt gleich abtreten wollen, und auch morgen noch nicht.
Nein, natürlich nicht, das wäre schrecklich. Aber ich war immer irgendwie – ich meine, in meinen frühesten Erinnerungen sehe ich meine Mutter, die kommt und sagt: "Wallace, es ist etwas Schreckliches passiert." Und ich fragte: "Was denn?" Und sie antwortete: "Mrs. Grabowski ist gestorben." Und ich zeigte überhaupt keine Reaktion. So ist es noch immer, auch heute noch. Natürlich, es gibt Menschen, die ich unendlich vermisse, weil sie gestorben sind. Aber grundsätzlich scheint es mir ganz natürlich, daß Menschen eines Tages sterben.
Man kann sich immerhin darüber freuen, daß man das Glück hatte, geboren zu werden. Die Wahrscheinlichkeit, nicht geboren zu werden, ist dagegen astronomisch hoch.
Astronomisch – und ob! Du sagst es. Da bin ich ganz deiner Meinung. – Aber wenn die Dichtung ihrem Wesen nach verstörend ist und Angste auslöst – verhält es sich denn mit Romanen anders?
Nun, der Fokus des Lyrikers ist ein anderer als der des Romanciers; er richtet seinen Blick nicht nur auf die äußere Welt, sondern auf die Schnittstelle zwischen innerer und äußerer Welt, an der die Sensibilität des Dichters auf das Wetter, auf die Straße, auf andere Menschen trifft und auf das, was er liest. Der Lyriker beschreibt diese Berührungspunkte: das Ich, den Rand des Ichs und den Rand der Welt. Das Schattenland zwischen Ich und Welt. Manchmal neigt er mehr dazu, für das Ich zu sprechen, manchmal, objektiver, für die Welt. Wenn die Balance sich mehr dem eigenen Ich zuneigt, kann es geschehen, daß in einem Gedicht scheinbar unverständliche und auf den ersten Blick merkwürdige Dinge zur Sprache kommen. Je weiter man sich von der Welt, die jedermann zu kennen glaubt, entfernt, desto fremder sehen die Dinge aus. Gewiß, das gibt es auch in Romanen, aber eher selten. In den meisten Romanen geht es um das, was "dort draußen" geschieht, und der Erzähler löscht sein Ich zugunsten der Handlung mehr oder weniger aus. Es gibt andere Erzähler, die ihr Ich in die Geschichte einbringen – Philip Roth etwa tut es auf so brillante wie erstaunliche Weise. Seine Bücher verblüffen mich. In ihnen ist die Welt wie elektrisiert, in Amerikanisches Idyll zum Beispiel. Und er ist mitten darin: Roth ist Zukkerman, er ist mittendrin und erzählt gleichzeitig die Geschichte. Wir sind uns keinen Moment im unklaren darüber, daß er es tut, aber wir sind uns auch nie ganz im klaren darüber, daß er es wirklich tut. In einem gewissen Sinn enthält dieses Buch mehr Magie als viele Gedichte, die ich in letzter Zeit gelesen habe.
Ich habe gar nicht gewußt, daß du ein Fan von Philip Roth bist. Ich auch! Würdest du dich generell als belesen bezeichnen? Liest du viele verschiedene Bücher? Verbringst du viel Zeit mit Lesen?
In meinem Leben hat es Perioden gegeben, in denen ich sehr viel gelesen habe, zu anderen Zeiten habe ich kaum ein Buch angerührt. Es gibt Romane, die ich mit großem Vergnügen gelesen und wiedergelesen habe. Es gibt viele Dichter, die ich wieder und wieder lese. In letzter Zeit neige ich dazu, einmal gelesene Bücher wiederzulesen. Ich tue das, weil ich weiß, daß sie mir gefallen haben, und ich frage mich, ob sie mir auf die gleiche Weise wieder gefallen werden. Oft schließe ich dann daraus, ob und wie sehr ich mich verändert habe. Es gab eine Zeit, während der ich Wittgenstein las. Es gab eine Zeit, in der ich die Romantiker las, ziemlich viel von Wordsworth. Immer wieder habe ich Wallace Stevens und Elizabeth Bishop gelesen. Ich habe immer mit außerordentlichem Vergnügen Philip Roth oder Samuel Beckett gelesen. Oder Italo Calvino. Oder Tommaso Landolfi. Oder Bruno Schulz, oder Franz Kafka. Große Dichter wie Octavio Paz habe ich im Laufe der Jahre wieder und wieder gelesen, Joseph Brodsky, Derek Walcott. Es gibt auch jüngere Dichter, die ich mit einer gewissen Ehrfurcht lese: Jorie Graham, Charles Wright, Charles Simic.
Ich weiß, daß du in mehreren Sprachen bewandert bist – etwa Spanisch, Portugiesisch und Italienisch – und daß du auch aus diesen Sprachen übersetzt hast. Was haben dir die Erfahrungen als Übersetzer für dein eigenes Schreiben gebracht?
Übersetzen ist fast wie ein Spiel. Ein ernsthaftes Spiel, weil es letztendlich deine Lesart eines Dichters wiedergibt. Man entwickelt mit der Zeit einen Sinn für syntaktische Möglichkeiten. Wenn man übersetzt, muß man sich bewußt sein, daß man auswählt. Soll ich es auf diese Weise wiedergeben? Gibt es andere Möglichkeiten? Wenn ich eigene Gedichte schreibe, stelle ich mir diese Fragen nicht. Ich tue es höchstens in einem späteren Stadium, wenn ich mich ganz objektiv frage, ob hier nicht ein zweisilbiges Wort mit der Betonung auf der ersten Silbe hingehört. Die Zeile sollte hier enden, nicht dort. Dort muß ein fallender Reim hin, hier eine Assonanz, oder da etwas anderes ... Am Anfang, wenn ich zu schreiben beginne, stelle ich mir diese Fragen nicht. Beim Übersetzen tue ich es ständig.
Beim Übersetzen betrachtet man die eigene Sprache von einem ungewöhnlich analytischen Standpunkt aus. Man nimmt sie auseinander und untersucht, wie sie wirkt, man studiert ihre Struktur. Hattest du das gemeint, als du sagtest, daß die erste Verpflichtung des Dichters diejenige gegenüber der Sprache sei?
Nun, beim Schreiben von Gedichten sucht man nach einer gewissen Flexibilität in der Verwendung von Sprache – eine Flexibilität, die die Erfolge der Sprache der Vergangenheit, und das heißt der einmal geschriebenen Gedichte, perpetuiert und die sicherstellt, daß das, was als neues Gedicht entsteht, diese Erfolge mehrt, und nicht etwa die Mißerfolge. Tatsache ist, daß wir viele unserer Vorstellungen, wie wir schreiben sollen, und unsere Ansichten darüber, was einen guten oder schönen Vers ausmacht, aus dem Umgang mit der Tradition der Dichtung beziehen. Mit anderen Worten: Es wäre schön zu wissen, daß die zukünftigen Dichter die besten Dichter von gestern und heute gelesen haben, damit die Kontinuität der Kunst der Poesie gewährleistet ist und sich Dichter auch in Zukunft nicht nur von Nachrichten oder Betriebsanleitungen inspirieren lassen. Wir werden immer am Besten gemessen, das in unserer Sprache geschrieben worden ist, und deshalb wollen wir auch das Beste davon weitergeben. Wenn Poesie lediglich darin besteht, eine Zeitungsseite neu zu formulieren oder jemandem im Fernsehen nachzuplappern, dann wird sie nicht überleben; das ist nicht die Sprache, die sich in die Zukunft übersetzen läßt.
Was würdest du von einem Dichter oder von jemandem, etwa einem Studenten, halten, der zu dir käme und sagen würde: "Mich interessiert nur die Gegenwart. Über die Tradition der Dichtung weiß ich nichts, ich bin auch nicht sonderlich interessiert daran"?
Nun, ich würde ihn fragen: "Was für Gedichte hast du gelesen, die dich zum Schreiben bewegt haben?" Normalerweise ist ja das, was uns an Gedichten anzieht, eine individuelle Stimme – die Stimme von Wordsworth, die Stimme von Keats, James Merrill, Anthony Hecht, welche auch immer. Es mag sich durchaus herausstellen, daß jemand, der keine Notwendigkeit verspürt, eine dieser Stimmen zu vernehmen, auch selbst keine sehr ausgeprägte Stimme besitzt.
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