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Cover Lettre International 72, Shana & Robert ParkeHarrison
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LI 72, Frühjahr 2006

Der atomare Leviathan

Autoritarismus als Demokratie, Intoleranz zur Freiheit erhoben

Es ist paradox, daß die erste Atombombe auf intellektueller Ebene von einer Gruppe von Wissenschaftlern entwickelt wurde, die davon überzeugt waren, an der Herstellung der letzten und einzigen Waffe zu arbeiten, mit welcher dem militärischen und industriellen System des Nationalsozialismus ein Ende gesetzt werden sollte. Paradox ist allein schon die Vorstellung, eine einzige und letzte Waffe zu schaffen, um die universellen Werte der modernen Wissenschaft zu retten. Der imperialistische Apparat des Nationalsozialismus hatte letztendlich dazu geführt, im Namen des wissenschaftlichen Humanismus nicht nur ein Instrument zur völligen Vernichtung der Menschheit zu rechtfertigen, sondern auch neue Formen totalitärer Macht, die seine technische Natur ermöglichte.

Paradox ist zudem, daß es ausgerechnet Albert Einstein war, der Präsident Roosevelt in einem persönlichen Brief auf die Dringlichkeit hinwies, eine auf der Kernspaltung basierende Bombe zu bauen, obwohl er nicht wußte, welche Konsequenzen ihre radioaktive Strahlung für das Überleben der Menschheit haben würde. Es ist paradox, daß ausgerechnet Einstein dies tat, der bis 1934 ein überzeugter Pazifist gewesen war und die ethischen Prinzipien der modernen Wissenschaft mit der Verurteilung von Patriotismus und Militarismus verband. Paradox, weil er in mehreren politischen Artikeln wie kein anderer vor der Gefahr gewarnt hatte, daß die neuen Technologien der Massenvernichtung und die daraus entstandenen Industrien finanziell, ideologisch und politisch zu einem neuen Imperialismus führen könnten.

Die Biographie des in Vergessenheit geratenen Joseph Rotblat offenbart denselben intellektuellen Konflikt auf institutioneller Ebene. Rotblat war Atomphysiker und Professor an der Universität von Warschau. Anfang 1939 floh er mit einem der letzten Züge, die Polen verlassen konnten, ehe die Wehrmacht das Land besetzte. Seine Ehefrau, die er einen Tag später treffen sollte, wurde von den Nazis festgenommen und verschwand. Noch im selben Jahr führte Rotblat in Liverpool seinen ersten Versuch im Bereich der Kernspaltung durch, mit dem 
er die technische Machbarkeit der neuen Bombe unter Beweis stellte.

Wenig später brachten die Regierungen von England und den USA gemeinsam die Mittel für die industrielle Produktion der Bombe im Manhattan District Project auf. 1944 arbeitete Rotblat in Los Alamos an der Endfertigung der Bombe. Ihn verfolgte die Angst, daß der industrielle und militärische Apparat des Nationalsozialismus die neue Waffe entwickeln könnte. „Ich glaubte, man müßte an der Bombe arbeiten, um ihren Einsatz zu verhindern“, versicherte er später. Doch wenige Monate nachdem er seine Arbeit in Los Alamos begonnen hatte, entdeckte er, daß die Deutschen weder an der Atombombe arbeiteten noch daran dachten, eine Atombombe zu entwickeln. Der Verdacht war von der amerikanischen Regierung gestreut worden, um den technologischen Wettlauf bei der Herstellung zu beschleunigen. Zudem ging es nicht einmal vorrangig um diese Frage. Ende 1944 war Deutschland militärisch am Boden. Es war nur noch eine Frage der Zeit, wann es endgültig zusammenbrechen würde. Rotblat verstand, daß die neue Massenvernichtungswaffe, die um vieles verheerender war als das nationalsozialistische Kriegspotential, sich selbst in ein imperialistisches Instrument verwandeln konnte. Gleichzeitig wurde immer deutlicher, daß ihr eigentliches Ziel nicht Deutschland oder gar das damals bereits durch massive Flächenbombardements weitgehend zerstörte Japan war, sondern die Sowjetunion.

Diese Wendung im Manhattan Project war nur für dessen Ingenieure eine Überraschung. Wahrscheinlich hatte bereits 1939 die militärische Führung diese Zielrichtung vorgegeben. Schließlich war unbestritten, daß nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus der Kommunismus eine weitaus größere Gefahr darstellte, da sein revolutionärer Internationalismus die juristischen und ethischen Fundamente der kapitalistischen Demokratie amerikanischer Prägung in Frage stellte und somit ein mächtiges moralisches und politisches Hindernis für deren Expansion darstellte.

Doch das war gar nicht mehr das Hauptproblem. Man muß auch auf den radikalen Bruch hinweisen, den diese neue Situation für das Gewissen des Forschers und der modernen Wissenschaft an sich bedeutete. Die atomare Katastrophe von Hiroshima und Nagasaki spaltete die Einheit von Wissen, ökonomischer Produktivität und menschlicher Souveränität. Mit anderen Worten, sie stellte eine Abkehr von den Grundwerten der modernen Wissenschaft seit Francis Bacons Instauratio magna dar. Eine radikale Revolution der Paradigmen fand statt. Der heilige Glaube, die Wissenschaft könne den Menschen emanzipieren und Fortschritt bringen, verwandelte sich in historische Angst und in Schuldbewußtsein des Wissenschaftlers. „Heute sind die Physiker, die die mächtigste Waffe der Welt bauen halfen, von ähnlichen Verantwortungs-, um nicht zu sagen Schuldgefühlen geplagt“, sagte Einstein selbst zum Geburtstag von Alfred Nobel, der vier Monate nach dem Abwurf der beiden Atombomben in New York gefeiert wurde. Und er fügte hinzu: „Aber die Angst unter den Nationen der Welt ist seit Kriegsende ausserordentlich gestiegen.“

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.