LI 94, Herbst 2011
Humane Architektur
Die Formensprache der brasilianischen Moderne im Werk Oscar NiemeyersElementardaten
Genre: Essay, Gespräch / Interview
Übersetzung: Aus dem Spanischen von Ulrich Kunzmann
Textauszug: 6.700 von 25.000 Zeichen (leicht modifiziert)
Textauszug
Unter den vielfältigen Erscheinungsformen dieses Erwachens der Peripherie des europäischen und nordamerikanischen industriellen Imperialismus stellen Brasilien, die künstlerische, architektonische und humanistische Blütezeit Brasiliens, das Projekt des Gesamtkunstwerks Brasília und besonders die Architektur Niemeyers eine Sternstunde dar.
Eine neue Form, eine originelle und individuelle Form, eine mit der Nationalkultur Brasiliens verbundene Form, eine mit den Elementen des lateinamerikanischen kulturellen Gedächtnisses vereinte Form, eine in die Äußerungen der Weltkunst des industriellen Jahrhunderts oder des Barocks integrierte Form, eine für die Freiheit der Völker engagierte Form, die Form als Mittel eines sozialistischen gesellschaftlichen Wandels: Mit diesen fünf oder sechs Wesenszügen läßt sich das Werk Niemeyers als eines Architekten, Intellektuellen und Erziehers kurz beschreiben. Ohne dabei jedoch seinen Ausgangspunkt zu vergessen: die Beziehung zwischen Form, Technologien und industriellen Werkstoffen oder, genauer gesagt, dem Stahlbeton. Ohne dabei zu vergessen, was Oscar Niemeyer mit der Tradition des europäischen Expressionismus von Gaudí bis Gropius verbindet: die Kritik an der Industriezivilisation, die Verteidigung einer künstlerischen Phantasie, die deren soziale Ungleichheiten und Geistlosigkeit überwinden sollte, und ein neuer Humanismus. Ohne dabei Niemeyers Bruch mit dem Funktionalismus und dem International style aus den Augen zu verlieren: den Vorrang, den er der Phantasie und der sozialen Bedeutung der architektonischen Form gegenüber der Unterordnung der Form unter einen instrumentellen Imperativ und eine im voraus feststehende sprachliche Ordnung gewährt. Die ersten beiden bedeutenden Werke Niemeyers, Pampulha und Brasília, sind in dieser Hinsicht zwei Manifeste.
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Das erste, was an Niemeyers Architektur auffällt, sind ihre Kurven: Es sind die weibliche Sinnlichkeit der Rundungen, der erotische Reiz der wogenden Linien und Flächen, die räumliche Dynamik, die von den kreisrunden, elliptischen und schraubenartigen Formen erzeugt wird. Der offenkundigste Aspekt der Form der Architektur Niemeyers ist die Nachbildung organischer und biologischer geschwungener Formen. Der Architekt hat diesen Wesenszug seiner Architektur selbst immer wieder betont.
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Zu dieser Parteinahme für die geschwungene Linie gehören weitere bedeutende ästhetische und symbolische Assoziationen. Kurve, Ellipse und Schraubenlinie vereinen offensichtlich die Kapelle von Pampulha, die Brücken und Stege des Memorial da América Latina in São Paulo und des Museums von Niterói mit der gestalterischen Dynamik des barocken Raums. Wir bringen die Sinnlichkeit der wogenden Linien, Flächen und Farben dieser Architekturformen mit der faszinierenden Wirkung jener Röcke und Unterröcke in Verbindung, die brasilianische, bacchantischen Tänzerinnen gleichende barocke Jungfrauen schmücken. Ihre schraubenförmigen und elliptischen Strukturen sind außerdem mit der mathematischen Konstruktion eines dynamischen und bewegten kosmischen Raums verbunden, wie er die barocke Astronomie und Kosmologie Giordano Brunos oder Johannes Keplers kennzeichnet. In diesem Sinn können wir die Architektur Niemeyers eine moderne Reflexion und Neuformulierung der barocken Raumvorstellung nennen. Und auch eine Neuformulierung der Sinnlichkeit des brasilianischen Barocks.
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In seiner Balanço confidencial („Vertraulichen Bilanz“), die Niemeyer noch in der Nachkriegszeit geschrieben hatte, prangerte er eine internationale Architektur an, die ihren sozialen Idealismus und ihre gestalterische Freiheit verloren habe. Angesichts dieses Zustandes der Stagnation schlug er vor, „eine Architektur“ zu schaffen, „die ganz aus Traum und Phantasie, aus Kurven und großen, von überflüssigen Elementen freien Räumen besteht …“ Diese Rebellion eines Intellektuellen an der Peripherie der unipolaren Weltordnung wurde ihm vom globalen akademischen Establishment niemals verziehen. Die scholastische Kritik hat Brasília als ästhetischen Mißerfolg und politischen Irrtum verurteilt.
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In einem Gespräch mit ihm betonte Oscar Niemeyer nachdrücklich das Wesen der Architektur als Erfindung und Phantasie sowie als Überraschungseffekt der Formen und Volumen, in eindeutigem Gegensatz zum Regelmäßigkeitsprinzip der Tradition des bis heute herrschenden Funktionalismus.
„Die Architektur ist für mich Erfindung. Nie habe ich die rationalistische Architektur des Bauhauses akzeptiert. Ich meine, daß das Schaffen des Architekten nicht nur nützlich, sondern auch schön sein muß. Und wenn es Kunstwerken nahekommt, muß es sich von anderen unterscheiden: Die Überraschung liegt allem zugrunde … Das Ziel meiner ganzen Arbeit war der Versuch, jene Schönheit und Überraschung zu finden, die für jedes Kunstwerk unentbehrlich sind. Und das wurde berücksichtigt, als die Bauwerke der neuen Hauptstadt [Brasília] projektiert wurden …“
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Am Ende wollte ich ihm ein Bekenntnis über seine Verbindung mit Brasilien als ganzem entlocken. Stefan Zweig beschrieb ja Brasilien im Jahre 1941 – daran erinnerte ich ihn – als „eine ganz neue Art der Zivilisation“. Damit bezog er sich auf die zwei Zivilisationsmodelle, die damals in einem verheerenden Krieg miteinander rangen: die europäische und die nordamerikanische Zivilisation. Brasilien war das „Land der Zukunft“, ein Gelobtes Land, gerade weil es sich von jenen zwei Modellen unterschied. Ob seine Architektur ein Ausdruck dieser brasilianischen Zivilisation sei?
„Ich möchte Ihnen mit diesem Gedicht antworten, das ich in einem ruhigen Moment geschrieben habe“, antwortete er, während er sich eine Mappe reichen ließ, die mit Zeichnungen und Notizzetteln vollgestopft war. Er nahm ein Blatt heraus, das offenkundig alt und zerknittert war, und las vor:
Nicht der rechte Winkel reizt mich,
Auch nicht die gerade, harte, unerbittliche,
Vom Menschen geschaffene Linie.
Mich reizt die freie und sinnliche Kurve,
Die Kurve, die ich an den Bergen meiner Heimat finde,
Im gewundenen Lauf ihrer Flüsse,
In den Meereswellen,
Am Körper der Lieblingsfrau.
Aus Kurven besteht das ganze Universum,
Einsteins gekrümmtes Universum.
Unser Gespräch endete dort, wo es begonnen hatte: Architektur als Erfindung, die Phantasie des Architekten, Architektur als reine Kunst. Er erklärte, man müsse eine schwerelose Architektur schaffen, die in der Luft schweben könne und an den Magnetfeldern hänge, etwas wie einen architektonischen Asteroid, verirrt in einem dynamischen, vollkommenen und unendlichen Universum, das unerschaffen sei und Kurven und Ellipsen erzeuge.