LI 141, Sommer 2023
Eine Nachricht für Tabonio Antucchi
Elementardaten
Genre: Autobiographische Erzählung
Übersetzung: Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki
Textauszug: 1.885 von 15.825 Zeichen
Textauszug
(…)
Er entfaltete den Zettel. Zerknittert war der, übel zugerichtet, weil er ihn zwanzig Jahre lang immer wieder gelesen hatte. Und auch die Tinte verblaßte mit der Zeit. Blau noch in den breiten Schriftzügen, wo die Feder stärker gedrückt hatte (die Windung des L, unterhalb der Zeile der Kräusel des Z, wie man es damals schrieb), neigte sie in den feineren Zügen zur Sepia, wo Linas Handschrift schneller, ja, sehr schnell wurde, denn der Schreiberin blieben nurmehr wenige Atemzüge. Es war Füllfedertinte.
„Ich habe dich nur ein einziges Mal betrogen, aber intensiv. Im Juni 36, in Forte, mit Averardo Fonzi. Addio, Lina.“
(…)
Es war also Forte dei Marmi. Im Juni 36. Während die Erinnerung gewissenhaft rückwärts schritt und die Stille weit entfernter, vom Gedächtnis unbewohnter Räume durchquerte (1940, 39, 38, 37), sieh an, da tauchte aus dem Kellergeschoß des Bewußtseins, aus diesem kleinen Loch dort, aus diesem Deckel der Kanalisation plötzlich eine häßliche, schmutzige Ratte mit rauchschwarzem Fell und roten Äuglein auf und hob den Kopf, triumphierend, dreist. Sie öffnete das rosa Mündchen und quiekte: „Die Tonietta ist keine Antucci, sie ist eine Fonzi!“ Er verjagte sie mit einem Fußtritt, doch sie fuhr fort, auf der Höhe der Speiseröhre ihr „Zi-zi-zi-zi“ von Fonzi zu quieken. Tatsächlich nannte Linas Botschaft aus irgendeinem Grund ausdrücklich ein genaues Datum: den Juni 36. Tonietta war am 20. März 1937 geboren. Die Rechnung ging auf. Und außerdem, was sollte „intensiv“ denn sonst bedeuten? Was beabsichtigt eine, die dir nach zwanzig Jahren, kurz bevor sie den Löffel abgibt, einen Seitensprung gesteht, den einzigen ihres Lebens, wenn sie sagt, sie habe es intensiv getan? „Intensiv“ bedeutete, daß sie sich hatte schwängern lassen, seine schöne Linuccia Stronza, das Stück Scheiße, von dem anderen Stück Scheiße, dem schönen Averardo Stronzi.
War er schön?
(…)