LI 97, Sommer 2012
Zwischen den Zeilen
Elementardaten
Genre: Briefe und Kommentare, Poetologische Reflexion
Übersetzung: Aus dem Englischen von Florian Wolfrum
Textauszug: 2.426 von 21.571 Zeichen
Textauszug
(…)
Es war 1993/94, als ich für die Friedensmission der Vereinten Nationen in Mosambik arbeitete. Es war, als ich − nach monatelangen Verhandlungen mit Generälen, die für die furchtbarsten Massaker und Massentötungen verantwortlich waren, die man sich vorstellen kann, täglich umgeben von Gewalt, Folter, Anschlägen, Geiselnahmen und Explosionen von Landminen, regelmäßigen Verstößen gegen den Waffenstillstand ausgesetzt sowie der ständigen Bedrohung durch einen Militärputsch, in einem Land, das zu dieser Zeit, nach 15 Jahren eines unbeschreiblich grausamen Bürgerkriegs, das Ärmste der Welt war − meine Hoffnung verlor.
(…)
Zu jener Zeit war in Maputo nicht sehr viel Literatur verfügbar, daher hatte ich stapelweise Romane im Gepäck. Aber ich hatte kein Verlangen danach, auch nur einen von ihnen aufzuschlagen. Was für einen Unterschied würde es machen, ob ich sie läse oder nicht? Doch an einem warmen Abend in der im Kolonialstil gehaltenen Bar des Hotels Polana, dem einzigen Ort des Luxus in der Stadt, schenkte mir ein Freund, der aus Europa kam und auf der Durchreise war, die Norton Anthology of English Literature. Mehr aus Höflichkeit schlug ich sie auf, las ein wenig hier und dort und entdeckte, daß ich durch die kürzesten Gedichte gerade so durchkam. Damit ging es für mich los.
Etwas geschah, als ich diese Gedichte las. Ich wußte noch nicht, was, aber ich wollte mehr lesen, wollte mich in ihnen verlieren.
Eines der ersten Gedichte, die ich auswendig lernte, war Thomas Hardys The Walk von 1914. Dieses Gedicht, das er im Kummer über den Tod seiner Frau nach vielen Jahren der Ehe schrieb, hatte nichts mit der Situation in Mosambik zu tun. Doch nachdem ich es viele Abende hintereinander für mich wiederholt hatte, sorgfältig Zeile für Zeile, bis ich es ohne einen Blick auf die bedruckte Seite laut aufsagen konnte, entdeckte ich, daß sich etwas verändert hatte: Das Gedicht nahm neue Proportionen an, der Rhythmus der Worte wurde zu einem Lied vieler Stimmen, einer Empfindung, einem Wissen von etwas anderem und Weitergehendem − das mich erstaunlicherweise durch die Brutalität eines weiteren Tages zu tragen schien.
Ohne übertreiben zu wollen, war es, sehr konkret gesagt, so, als hätte Hardy mir ein kleines Stück seiner Seele gegeben, um meine eigenen erschöpften Lebensgeister damit zu nähren.