LI 139, Winter 2022
Butscha ist ein Spiegel
Die apokalyptischen Träume des Imperiums im Bluttheater des KriegesElementardaten
Genre: Essay
Übersetzung: Aus dem Russischen von Anja Schloßberger
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Textauszug
Am 1. April 2022 gingen die schrecklichen Photos von der ukrainischen Stadt Butscha im Kiewer Gebiet durch die internationalen Medien. Aufgenommen wurden die Photos nach der einmonatigen Besatzung durch das russische Militär, massenweise bezeugten sie die schrecklichen Massaker, welche die russischen Truppen während dieses Monats verübt hatten. Körper von Zivilisten, darunter Frauen und Kinder, wurden tot aufgefunden, sie waren verstümmelt und verbrannt, die Arme gefesselt, wiesen Spuren von Folter und Vergewaltigungen auf. Überall auf den Straßen lagen Leichname, in den Kellern der Häuser, aber auch in den hastig von den [russischen] Soldaten ausgehobenen Massengräbern, um die Spuren ihrer Greueltaten zu verbergen.
Wie reagierten die offiziellen russischen Medien auf diese Bilder? Man sprach von Provokation und schickte sich an zu behaupten, die Ukrainer hätten die Tötungen lediglich inszeniert und die Aufnahmen gefälscht, um die russischen Streitkräfte zu diskreditieren. Damit nicht genug: Am 18. April wurde die 64. Garde-Motorschützenbrigade der Separatisten, die in Butscha eingesetzt worden war, von Präsident Putin zu Ehrengardisten ernannt. Die Gesellschaft war gezwungen sich einzugestehen: Ja, im 21. Jahrhundert sind Genozid, Folter und Massenmorde immer noch möglich. Und überdies können die, welche derartige Verbrechen begangen haben, als Nationalhelden gefeiert werden.
(…)
Der destruktive Trieb, der im Krieg freigesetzt wird, ist nicht der Todestrieb selbst, sondern eher das Resultat eines komplexen Umkehrungsprozesses: „Der Todestrieb wird zum Destruktionstrieb, indem er mit Hilfe besonderer Organe nach außen, gegen die Objekte, gewendet wird. Das Lebewesen bewahrt sozusagen sein eigenes Leben dadurch, daß es fremdes zerstört.“ Aus dieser Perspektive kann Krieg als kollektiver Thanatos[trieb] verstanden werden, der gegen ein anderes Volk gerichtet ist. Die bewußten Motive sind nur ein Element an der Oberfläche eines komplexen Apparates, angetrieben vom unbewußten Todestrieb des Aggressors.
Um jedoch die Szene von Butscha in ihrer Singularität zu verstehen, genügt es nicht, lediglich die psychoanalytische Theorie auf die empirischen Daten anzuwenden. Das vermittelt uns nur eine allgemeine Vorstellung davon, warum diese Szene bei uns ein solches Grauen und eine derartige Abstoßung hervorruft. Ja, Butscha ist ein Spiegel, aber ein Spiegel von was? Anders ausgedrückt, was ist der Gegenstand des Todestriebes, der in Butscha auf die Bühne [des Kriegstheaters] kommt?
Am 19. April (also kurz nach Butscha) erhielt der russische Schriftsteller Alexander Nikonow einen Telefonanruf von dem Schauspieler Iwan Ochlobystin, der für seine ultrakonservativen und proputinistischen Ansichten bekannt ist. Der Schauspieler war betrunken. Offenbar rief er seine Freunde der Reihe nach an, um sich gewissermaßen von ihnen zu verabschieden und ihnen mitzuteilen, daß er willens sei, in die Ukraine zu gehen, um für Putin zu kämpfen. Nikonow zeichnete das Gespräch auf und teilte es im Netz, weil es repräsentativ ist für die aktuelle russische Geistesverfassung aller russischer Patrioten. Hier Auszüge aus Ochlobystins Monolog: „Rußland wird immer siegen. Wir werden siegen! … Selbst wenn das Unmögliche geschieht und wir verlieren, heißt das, daß die ganze Welt mit uns verlieren wird. Nichts wird es mehr geben! Da wird nur noch ein großes Zero sein. Und wir alle sind bereit für diese Apokalypse! Alle Menschen sind sich einig. Und ihr habt keine Ahnung davon, in welchem Ausmaß! Einstimmig! … Wir werden alle töten! Wir brauchen keine Welt, in der es keinen Sieg für uns gibt, Putin hat das nicht von ungefähr gesagt … Das ist so geil! Wir sind jetzt alle so aufgeregt! Was für ein Glück! So Gott will … Wir werden diese ganze Welt in die Luft jagen! Wir werden alle töten!“
In dieser Begeisterung im Angesicht des Todes manifestiert sich der Todestrieb in Reinform. Man kann in der Tat von einem Fall von Psychose sprechen, einer gleichermaßen individuellen wie kollektiven Psychose: Die apokalyptischen Träume der regierungsfreundlichen Intelligenzija führen die Militärs als reale Schauspieler im Kriegstheater auf in ihrer Passage à l’acte in der blutigen Szene von Butscha. Meine Intention ist nicht, anderen Menschen auf irgendeine Weise eine Diagnose zu stellen – seien es berühmte Schauspieler oder namenlose Soldaten. Es ist leicht, aus der Position moralischer Überlegenheit anderen eine Behandlung zu verschreiben; viel schwieriger ist es, den Mut aufzubringen, in diesen Spiegel zu schauen, sich selbst in Hinblick auf die Realität von Butscha zu registrieren, die sich in den Augen der Menschen widerspiegelt, einschließlich der „guten“ sowie der „normalen“ Menschen.
(…)