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Cover Lettre International, Valérie Favre
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LI 115, Winter 2016

Kriegstrilogie

Moskau. Kursker Bahnhof. Sommer 2015. Im Wartesaal fällt mir so ein Automat auf, an dem man normalerweise Wasser oder Kaffee kaufen kann. Nur trug dieser hier ein Tarnfleckmuster: An ihm werden Erkennungsmarken verkauft. Der Automat bietet solche Marken als modisches Accessoire an. Für 400 Rubel kann man eine Marke an der Kette kaufen, um sie um den Hals zu tragen, oder mit Ring, um sie als Schlüsselanhänger zu benutzen. Mit einer Marke der russischen Armee werden Sie wie ein echter Soldat. Jeder echte Soldat trägt so eine Marke. Mit ihr kann seine Leiche identifiziert werden.
Früher hielt an diesem Bahnhof der Zug, der über Moskau nach Donetsk fuhr. Diese unpopuläre Verbindung ist inzwischen eingestellt. Doch im Herbst 2014 fuhr ich mit diesem Zug von Petersburg nach Moskau. Ich hatte das billigste Ticket, eine Platzkarte für 900 Rubel. Der Zug fuhr tagsüber, und in dem Großraumwagen konnte man nach alter sowjetischer Tradition während der ganzen Fahrt mit Mitreisenden reden, ohne sich vorzustellen. Mir saß ein junger Bursche aus Rostow gegenüber. Wir tranken starken schwarzen Tee mit Zucker, er bot mir Sonnenblumenkerne an und erzählte mir, daß es bei ihnen dort insgesamt verhältnismäßig ruhig sei, doch die Familie müsse irgendwann wegziehen, immerhin werde dort gelegentlich „geschossen“, und er selbst habe sich schon in Petersburg niedergelassen und eine Arbeit beim Vertrieb von Rabattkarten gefunden.
Dann ging eine kleine Gruppe von Soldaten durch den Waggon. Aus irgendeinem Grunde taten alle so, als würden sie das nicht bemerken. Auch mein Reisegefährte sprach weiter, nur sein veränderter Blick verriet etwas. Sie sind so jung und tragen doch so dicke Sachen. Der erste Gedanke, der einem kommt, wenn man im Frühling einen Soldaten in dicker Kugelweste im Zug nach Donetsk fahren sieht, wird sofort verdrängt. Man denkt ihn lieber gar nicht erst. Nein, das ist nicht das! Das sind wahrscheinlich einfach Wehrpflichtige, die nach Hause fahren, oder irgendwas zu erledigen haben – das kann nicht das sein! Die Soldaten waren schon auf die Plattform verschwunden, vorbeigehuscht wie Gespenster, geblieben war nur eine seltsame Erinnerung – mir schien, im Waggon sei ein kaum wahrnehmbarer Geruch von Erde zurückgeblieben. Echte Soldaten mit echten Erkennungsmarken, die sie kostenlos erhalten.
Das leichte Gefühl einer ängstlichen Neugier, welches das Auftauchen der Militärs unter friedlichen Passagieren hervorruft, ist ein bißchen peinlich. Ebenso peinlich ist es, wenn man Prostituierte sieht, die aus Rußland oder der Ukraine zur Arbeit in die reichen Länder fliegen. Sie stehen ebenso wie die anderen Passagiere in der Schlange am Schalter, könnte man sagen, doch etwas in ihrer Erscheinung – womöglich die allzu hohen Absätze, die Haare, die Augen, ein Detail in ihrer Kleidung – verrät ihre Zugehörigkeit zu einer anderen, unbekannten, gefährlichen Welt – einer Welt, in der man sich Unbekannten für Geld hingibt. Wir schlagen die Augen nieder und sagen uns: „Nein, das kann nicht das sein, natürlich, Prostituierte gibt es, aber woanders, wo niemand sie sieht – dies hier ist nur eine zufällige Verirrung, da ist jemand einfach zu schrill angezogen.“

SAKRALE WELT

Die Soldaten sind die Prostituierten des Krieges. Sie gehören, wie die Prostituierten, einer anderen, sakralen Welt an. Diese Welt beruht auf dem Verstoß gegen das Verbot – das Verbot von Sex oder das des Tötens. So wie der Körper der Prostituierten ist der Körper des Soldaten unanständig und zur Gewalt prädestiniert. Wie die Prostituierte haust der Soldat in einem Territorium, wo der anständige Bürger nichts zu suchen hat – einer Zone bewaffneter Auseinandersetzungen, einem Konflikt-
herd. Die Gewalt des Krieges oder des Sexes sind nicht für menschliche Augen bestimmt – denken wir. Wenn es ein Spektakel ist, dann ein erhabenes, das man nur aus sicherer Entfernung beobachten darf. Das Erhabene nun ist nach Schelling mit dem Unheilvollen verbunden, dem Unheimlichen: das, was heimlich hat sein sollen, aber offenbar wurde. Überhaupt wird dieser Bereich heute nicht mehr als sakral, sondern als das Unbewußte bezeichnet, so als wäre das, was in der Antike äußerlich und sozial war, jetzt zu etwas Innerlichem und Individuellem geworden und verrate sich vermittels der Symptomsprache. In der heutigen Welt hat das Unbewußte, wie Georges Bataille sagt, das Sakrale ersetzt oder, besser, es nach innen verschoben. Die verbotenen Gebiete sind dadurch nicht verschwunden – doch das hohe Grauen von Bordell und Krieg hat einen inneren Agenten in uns, der die Erinnerung unseres Herzens in ein absonderliches Phantasma verwandelt.
Als Mittler zwischen dieser und der anderen Welt – zwischen dem normalen Menschen und der Prostituierten oder dem Soldaten – dient der Porno, der uns als privilegiertes Medium Nachrichten von der Front der verbotenen Gewalt bringt. Prostituierte werden im Sexporno vergewaltigt, Soldaten im Kriegsporno getötet. Anschauliche Beweise des Krieges sind zerteilte Körper, durcheinander geworfene Extremitäten, lose daliegende Beine und Arme, Organe ohne Körper, offene Münder ohne Gesichter und sonstige „Partialobjekte“. Der Kriegsporno prägt das Muster für andere Pornoprodukte, die in die kapitalistische Produktion und den Vergnügungskonsum einbezogen werden. Unser ständiges Existenzmilieu ist die kapitalistische Wirtschaft, deren Gleichgewicht paradoxerweise durch einen endlosen imperialistischen Krieg gesichert wird, der durch die Welt nomadisiert – von Vietnam nach Afghanistan, vom Irak nach Palästina, aus der Ukraine nach Syrien. Der Krieg im Kapitalismus ist ein Laufband, das den Nachschub an Partialobjekten für die globale Pornoindustrie sichert. In dieser Welt der verbotenen Gewalt findet die Begegnung zwischen Soldat und Prostituierter statt. (…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.