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Inhaltsverzeichnis

LI 128, Frühjahr 2020

Das Klimabeben

Die allgemeine Ratlosigkeit angesichts der atmosphärischen Erwärmung

(...)

Die absehbaren gravierenden Auswirkungen des Klimawandels betreffen die sensiblen Achillesfersen der Zivilisation: eine derselben neben anderen wie Beeinträchtigung der Böden, Aridisierung, Verkarstung und ähnliches, ist das Gletscherschmelzen. Sie trifft die Wasserwirtschaft, die Agrarwirtschaft, den Wasserspiegel der Ozeane, die ozeanische Zirkulation, die ozeanische Fauna. Die wichtigsten Züge lassen sich kurz zusammenfassen.

Ozeanisches Grollen

Die Erde ist ein Wasserplanet, der einzige im Sonnensystem. Ohne Wasser kein höheres Leben auf ihr. Die Ozeane führen es im Überfluß. Im klimatischen Ökosystem spielen sie eine mehrfache Rolle, einmal als CO2-Buffer, Lebensraum der Mikroorganismen. Sodann als ozeanisches Strömungssystem, AMOC (Atlantic Meridional Overturning Circulation) genannt. Die Erwärmung stört den AMOC. Das Schmelzwasser der mächtigen Grönlandgletscher verdünnt die ozeanische Oberflächenschicht, behindert den warmen subtropischen Nordwärtsfluß, im Atlantik den Golfstrom. In drei Jahrzehnten hat er sich um 15 Prozent abgeschwächt. Seine Verschiebung in den mittleren Atlantik bringt Kühlung in Nord- und Mitteleuropa. Die iberische Halbinsel und die nordamerikanische Ostküste erwarten größere Wärme, sobald sich das karibische Wasser dort sammelt, unabgekühlt nicht sinkt. Unklar bleibt das Verhalten des kalten ozeanischen Rückstroms, des Labradorstroms; zirkuliert er in der Tiefsee, kehrt nach Norden um, brächte er zusätzliche Abkühlung im Nordatlantik, Kälte in Nordeuropa, keine Vereisung, aber drastisches Sinken der Temperatur, Vertaigaung, nordfinnische, sibirische Zustände mit instabilen klimatischen Wetterlagen. Die Aussichten sind nicht rosig. Die genauen Zusammenhänge sind für eine präzise Modellierung des AMOC zu kompliziert; sie lassen uns im Ungewissen über den Zeitablauf. Die lineare Extrapolation sagt sein Umklappen bei Zwei-Drittel-Abschwächung voraus, in der vier- bis fünffachen Zeit der bisherigen Änderung: das heißt in 120 bis 150 Jahren. Die Umklappzeit hängt ab vom Abschmelztempo der Grönlandgletscher, das sich im letzten Jahrzehnt um 33 Prozent beschleunigt hat. Andere Rechnungen schieben das Umklappen um 300 Jahre hinaus.

Mit dem Abschmelzen des Polareises, der Grönlandgletscher, der Antarktis tritt neben den annullierten, zumindest reduzierten Lebensraum der polaren Fauna und Flora ein anderes Ungemach: Die zusätzliche ozeanische Wassermenge hebt den Meeresspiegel global an, vermutlich um Meter. Die Folgen sind Überflutung flacher Küsten und Inseln, Einschränkung der humanen Lebensräume, Evakuierung verschiedener Städte wie Amsterdam, London, Hamburg, New York. Völkerverschiebungen großen Ausmaßes und in deren Folge Konflikte sind vorgezeichnet. Sie potenzieren sich mit dem rapide zunehmenden Wachstum der Weltbevölkerung.

Schließlich verschwindet mit steigender Temperatur das Inlandeis. Europa, auch die Arktis, werden in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts eisfrei sein. In allen europäischen Gebirgen schmelzen die Gletscher mit zunehmender Geschwindigkeit. Sichtbare Beispiele sind die Alpengletscher. Noch füllt ihr Schmelzwasser die großen Ströme. Das wertvolle Süßwasser, das sie über Jahrzehntausende gespeichert hatten, ergießt sich ins Meer, wo es versalzt, das ozeanische Oberflächenwasser verdünnt, so daß es leicht wird und nicht sinkt. Die Verluste an energieerzeugender Wasserkraft und Trinkwasser, die sich nicht nur im Gletscherschmelzen bemerkbar machen, beunruhigen. Im Klimawandel fallen mangels Zufluß die Wasserspiegel der Inlandseen. Der erwartete verstärkte Niederschlag sollte deren Regulierung übernehmen. Doch in der CO2-gesättigten Atmosphäre säuert der Regen, beeinträchtigt die Wasserqualität der Seen den Zustand des Bodens, der Äcker, des Weidelands. Die Böden versauern mit den daraus folgenden Auswirkungen auf Landwirtschaft und Versorgung. Daß der Boden CO2 absorbiert, hilft nur scheinbar. In diesem circulus diabolicus führt das Niederschlagswasser einen Teil der Kohlensäure ab in die Flüsse. Das übrige bleibt im sauren Boden zurück, reichert sich an, verwittert den restlichen Kalkgehalt und erzeugt zusätzliches CO2, das in die Atmosphäre ausgeblasen wird. Übermäßige organische Düngung der industrialisierten Agrarwirtschaft trägt ein übriges dazu bei.

(…)

Waldesrauschen
Ein scheinbar vielversprechender, begrenzt praktikabler, doch gleichfalls nicht marktgerechter Vorschlag, der keinen Profit abwirft, betrifft die Regulierung des Kohlendioxidgehalts der Atmosphäre am Boden durch Rückgriff auf die Assimilation der Grünpflanzen, die natürliche Photosynthese. Es ist ein Irrtum, zu glauben, große Weideflächen mit ausgedehnten Rinderherden trügen entscheidend bei. Düngung, intensive Bewirtschaftung, das darauf grasende Vieh erzeugen im Gegenteil erhebliche Überschüsse an CO2 und CH4; IPCC und UNO raten entschieden davon ab. Es wäre im Gegenteil angebracht, schlagen sie vor, die Fleischproduktion drastisch herunterzufahren, Weideland sich selbst zu überlassen. Brachland habe schwach positive Auswirkungen auf den Ausstoß von Treibhausgasen.

Den tatsächlich gewünschten Effekt hätte die intensive globale Aufforstung aller nicht für Ackerbau benötigten nutzbaren Flächen der Welt. Unabhängige Berechnungen zeigen, daß die gegenwärtig landwirtschaftlich, nicht viehwirtschaftlich bewirtschafteten Flächen ausreichen, die heutige Weltbevölkerung zufriedenstellend zu ernähren, würden sie erstens konstant gehalten, ihr Wachstum radikal eingedämmt, zweitens eine angenähert ausgewogene Verteilung der landwirtschaftlichen Produkte erreicht und sorgsamer mit ihnen umgegangen werden – gleichfalls unmöglich zu realisierende Randbedingungen. Die Stabilisierung der Weltbevölkerung hieße den Anstieg der Geburtenrate begrenzen – eine international undurchsetzbare Maßnahme, gegen welche Länder und Bevölkerungen, die hochindustrialisierten und deren sich für wertvoll erachtende Eliten eingeschlossen, sich allerorts sträuben, ja zur Wehr setzen.

Die Aufforstung der landwirtschaftlich ungenutzten, geographisch, topologisch, klimatisch aufforstbaren Gebiete, ausgenommen Wüsten, besitzt hingegen das reale Potential, den CO2-Überschuß im Baumbestand – Wäldern, Hainen, Gebüsch, Hecken – zu binden, solange dieser nicht ungebührlich über die für das 21. Jahrhundert von der UNO angepeilte Temperaturzunahme von zwei Grad Celsius anstiege. Keine Monokulturen, sondern Mischwald. Wird dieser Temperaturgrenzwert eingehalten, dann genügt der bis zur zweiten Hälfte des Jahrhunderts weltweit gewachsene Forstbestand langzeitlich zur Stabilisierung der Treibhausgaskonzentration, mit ihr der Temperatur, was unter Bewahrung des heutigen Lebensniveaus angestrebt wird. Es vermiede gravierende Einschnitte in industrieller Produktion und westlichem Lebensstandard. Doch setzt es die konzertierte Aktion aller Länder des Globus voraus, eine wahrscheinlich unrealistische, jedenfalls schwer zu realisierende Erwartung, wie das Beispiel Brasilien zeigt, wo die fortschreitende Abholzung des für den Fortbestand der Zivilisation unverzichtbaren größten tropischen Regenwaldes unseres Planeten zum Zwecke der profitablen privaten Palmöl- und Sojaproduktion gegenwärtig rasant vorangetrieben wird.

Umgekehrt gibt es auch ermutigende Reaktionen. Äthiopien, zum Beispiel, hat in den vergangenen Jahren vierzig Millionen Bäume angepflanzt. Auch die Arabischen Emirate unternehmen Versuche, Wüstengebiete aufzuforsten. China und Rußland beschreiten lokal den gleichen Weg, letzteres trotz Nichtratifizierung des Pariser Abkommens. Israel befolgt diese Strategie auf seiner kleinen Fläche seit Jahrzehnten, und in den USA sind lokal auf Bürgerebene ähnliche Aktionen im Gange oder geplant. Sie werden aber durchweg konfrontiert mit der praktischen Schwierigkeit, sich die benötigten Setzlinge zu beschaffen. Staatliche Maßnahmen und sachgerechte Unterstützung der ärmeren Länder sind gefordert. Daneben muß allerdings, wie das Beispiel Australiens zeigt, auch bei nur geringem Temperaturanstieg mit spontanen Waldbränden gerechnet werden, die einen Teil der Anstrengungen zunichte machen. Das sollte aber nicht von Bemühungen zur massiven Aufforstung abhalten.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.