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Cover Lettre International, Konstantino Dregos
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LI 113, Sommer 2016

Das Pariser Journal

Die Nacht ist vorbei und der Wind hebt an in der Stadt die vergißt

(…)

Abendlicher Dreh in der historischen Marktstraße Rue Mouffetard, genannt die „Mouffe“, am Linken Ufer. Ihre Geschichte reicht wahrscheinlich bis ins Mittelalter zurück. Spektakulärer Vollmond. Kameramann Heinz – ehemals Filmbegleiter im „Sonderzug Göring“ – zielt mit ruhiger Hand auf den Mond. Schiebt dann den Trafo (er haßt das Wort Gummilinse) so weit zurück, daß der ganze Markt mit seinen gasbeleuchteten Ständen ins Bild kommt. Verblüfft frage ich, wie das denn zusammengeht, Gestirn und irdisches Gewühle? Er mißt mit dem Belichtungsmesser nach: „Nu ja, ergibt in etwa die gleiche Blende.“

Die „Mouffe“ ist ein Gedicht für alle Sinne. Sie setzt sich zusammen aus Rettichrot, Schinkengefleck und Orangenorange, aus Marktfrauenlärm, Radiojazz und Bettlergeschrei, aus Karpfenduft, Fäulnisgestank und Abortmief. Auch dem versteckten Druck mancher Hand auf Melonenpole, Camembertmeridiane und Studentinnenäquatore. Die Straße endet weit unten an dem Kirchlein St.-Medard, einst berüchtigt für Wunderheiler und wunderliche Heilige. Zuletzt amtlich geschlossen, hing am nächsten Tag eine Tafel über dem Eingang: „Auf Befehl des Königs ist es von nun an Gott verboten, hier Wunder zu tun.“

Zusammengeschnitten werden unsere Aufnahmen zirka neun Minuten ergeben, mit sparsamem Text, der beiläufig dem Obigen entspricht. Jetzt brauchen wir bloß noch vier weitere Storys der gleichen Länge zu finden, dann ist mein erstes Pariser Journal komplett. Drehzeit maximal eine Woche.

Was bedeutet mir dieses „Journal“? Noch ahne ich es kaum. Aber diese Sendung, nein, dieses zuletzt halbe Hundert Sendungen über zehn Jahre hinweg, wird, mehr als alles andere, meine persönliche Auseinandersetzung werden mit meiner Stadt. Diesem unauslotbaren Moloch von Stadt, so schön wie erschreckend, der periodisch neu erobert werden will. Und Journal nicht im landläufigen Sinn, sondern in der ursprünglichen Bedeutung als intimes Tagebuch. Als Niederschrift unserer täglichen Zusammentreffen mit Menschen und Orten, deren man damit habhaft zu werden sucht. Muß ich noch hinzusetzen, daß ich die Stadt ja zuerst in den Zeiten ihrer größten Erniedrigung, in Krieg und Besatzung kennengelernt habe? Von ihr, die ich doch nichts wie lieben wollte, scheinbar abgelehnt, ja gehaßt.

(…)

Reise nach Südfrankreich, um das Journal endlich ein wenig auszuweiten. Schon eigentümlich, wie sehr alle Welt dieses Land mit seiner Hauptstadt identifiziert. Wo doch die meisten Pariser (noch) aus dem Hinterland stammen. Und ganze Berufsschichten, wie etwa die Cafébesitzer aus der Auvergne oder die korsischen Zuhälter und Gangster, mit ihren Provinzen identifiziert werden ... Am Lyon-Bahnhof nehmen wir den Nachtzug zur Südküste, mit interessanter Ausbeute: Zuerst in Vence der steinalte Theatermacher Gordon Craig. Einst Erfinder des Rundhorizonts und der symbolischen Bühne. Befruchter von Stanislawski, Reinhardt, Piscator, Wieland Wagner, bis hin zu Beckett und Genet. Ein Alleskönner. Jetzt an die neunzig, zahnlos und vergessen. (Vielleicht auch ignoriert, weil er sich ja im letzten Krieg mit Mussolini einließ.) Galt einst als einer der schönsten Männer seiner Zeit. Drei große Frauen haben sein Leben bestimmt: die britische Schauspielerin Ellen Terry, seine Mutter. Die italienische Tragödin Eleonora Duse. Und die amerikanische Tänzerin Isadora Duncan. Jetzt vegetiert Craig hier mit seiner ältlichen Tochter, die Daphne heißt oder Deirdre oder etwas ähnlich Jugendstilhaftes. Eines von dem runden Dutzend, meist unehelichen Kindern, die er der Welt hinterlassen haben soll. Craig ein Künstlertyp, mit wallendem Weißhaar unter breitrandigem „Kalabreserhut“, wie ihn damals die Boheme affektierte. Wir folgen dem Paar mit der Kamera zum Frühstück in einem unansehnlichen Bistro. Geflüsterte Beratung hinter vorgehaltener Hand: „Sie wollen ein Interview, Papa.“ „Was ist das für ein Ding?“ „Du weißt doch: Wie du es einmal mit Oscar Wilde veranstaltet hast.“ „Habe ich Wilde gemocht?“ „Nein, Papa. Du hast ihm gesagt, er ist ein Lackaffe.“ „Gut so.“ Und zu uns: „Sie dürfen mich interviewen.“ 

Es folgt ein langes Gespräch über Bühnenkunst, wobei Craig voraussetzt, daß wir mit allen genannten Namen vertraut sind. Endlich darf ich auf seine berühmten Geliebten zu sprechen kommen. „Ach ja, Isadora, sie war wie mein eigenes Blut. Leider packte sie dann der Ehrgeiz, wie so viele Amerikanerinnen. Aber ich sah sie einfach als Frau, und da war sie wundervoll.“ Ich werfe ein, daß ihr uralter Bruder Raymond nach wie vor in Paris lebt und, mit römischer Toga und Stirnreif bekleidet, am Linken Ufer herumpromeniert. „Ja, Genie ist nicht erblich“, meint er trocken (wobei Daphne oder Deirdre sichtlich zusammenzuckt). „Auch die Duse war außerordentlich, aber sehr schwierig. Wenn ich meinte, hier setze ich ein klassisches Tor, so schoß es direkt aus ihr heraus: ‘Ich gehe durch keine hohe Tür, das macht mich noch kleiner, als ich ohnehin schon bin.’ Eine unmögliche Person.“ „Sie haben sie alle beide geliebt?“ „Ach Gott, diese herrlichen zwei Vornamen. Vielleicht habe ich immer nur Namen geliebt.“ Worauf neuerliches Zusammenfahren der Tochter unvermeidlich ... Später, zur Recherche in der Pariser Nationalbibliothek, werde ich Isadoras Autobiographie dort entdecken, von ihrem ungetreuen Liebhaber handschriftlich annotiert: „Oh du Luder, so war das doch gar nicht.“ „Ja, da hast du wieder recht, da war ich schuldig.“ Und einmal, bei einer schwärmerischen Passage: „Ah, love, love!“

Anschließend in Saint-Jean-Cap-Ferrat Zusammentreffen mit dem – trotz Shakespeare – erfolgreichsten britischen Autor aller Zeiten, W. Somerset Maugham. Da sitzt der uralte Literaturchamp (achtzig Bücher) in dem riesigen Park – er beschäftigt allein vier Gärtner – seiner „Villa Mauresque“, die einmal dem schurkischen König Leopold II. von Belgien gehört haben soll. Das sonnengebräunte durchfaltete Gesicht wirkt eher lebensklug als weise. Zieht zu unserer Überraschung ein Büchlein aus der Tasche und rezitiert in gutem Deutsch – anscheinend dereinst an der Uni Heidelberg gelernt – einen Vierzeiler von Goethe: „Alles geben die Götter, die unendlichen, / ihren Lieblingen ganz. / Alle Freuden, die unendlichen, / alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.“ Worauf sich die Frage von selbst ergibt: „Sind Sie einer dieser Lieblinge der Götter?“ „Ja, aber ich habe immer mehr gelitten, als ich mich gefreut habe, viel mehr. Ich hatte ja dieses Stottern, das mir mein ganzes Leben zerstört hat.“ „Aber war es nicht gerade dieses Verhängnis, das Ihnen Ihre besten Bücher herauspreßte?“ „Das ist gewiß wahr. Aber ... hat es sich gelohnt?“ Damit sind die uns versprochenen 15 Minuten erschöpft, wir beginnen unseren Abschied. Der Meister geleitet uns, elegant auf seinen Stock gestützt, zum Parktor: „Ich hoffe, genügend unterhaltsam gewesen zu sein. Vergessen Sie nie, Kunst muß vor allem unterhalten. Nur dürfen Sie das nie laut aussprechen.“

(…)

Clochards – Stadtstreicher, Penner, Stromer ... Früher einmal galten sie als Inbegriff der Ungebundenheit, des antibürgerlichen Affekts. Ihre Treffpunkte waren Place de la Contrescarpe am Schlußpunkt der Marktstraße Rue Mouffetard – dann die „Maube“ genannte Place Maubert nahe der Seine – die historische Rue Charlemagne im Maraisviertel, wo sich die Altpapierhändler mit ihren Handkarren zusammenfanden – schließlich auch noch der Seinekahn der Heilsarmee. 

Woher die Clochards ihren Namen haben, weiß niemand so genau. Vielleicht von den Kirchenglocken (cloches), unter deren Läuten sie an Feiertagen gern zum Betteln kommen. Oder war es der Glockenton, der vormittags das Ende des Markthallenbetriebs ansagte, und damit die Erlaubnis, um Überreste zu schnorren? Heute, wo alles in Abkürzungen schwelgt, heißen sie offiziell „SDF“, sans domicile fixe, also ohne festen Wohnsitz. Damit läßt sich behördlicherseits schon arbeiten, wenn man weiter nichts für die Leute tun will. Höchstens die hölzernen Bänke in den Metrostationen, einst Lieblingsnächtigung der Penner, zu Einzelsitzen aus Plastik umzustylen.

Einmal im Jahr jedoch erwachte damals dieses Pariser Nachtvolk aus seinem schattenhaften Dasein, bevor es wieder zurückkroch in die Prähistorie. Am Weihnachtsabend veranstaltete man für die cloches, wenn auch nur wenige Jahre lang, eine eigene Mitternachtsmesse unter der Tournelle-Brücke. Längs der Mauern offene eiserne Mülltonnen, in denen wärmende Holzscheite prasseln. Hölzerne Schemel in Reihen, auch ein Weihnachtsbaum, eine Estrade, und fertig ist das Auditorium. Bei Dunkelheit werden dann Tische aufgebaut, und jetzt kommt das Festmahl angefahren, von irgendwelchen wohltätigen Stiftungen bereitgestellt. Schon brodeln in dicken Kesseln Würste, Sauerkraut und Kartoffeln. Daneben aufgestapelt ein ganzer Berg von Plastiktüten, darin jeweils eine Pulle Rotspon, ein Baguette, Zigaretten. Nun treffen auch schon die ersten Clochards ein, tapsen die steinerne Kaitreppe herunter, blinzeln verlegen gegen unsere Kamera. Dann hocken sie schmatzend herum an den Feuern, manche pinkeln noch schnell in die Seine, und die Vorstellung kann beginnen. 

Längst abgewrackte Artisten sind es, die sich da produzieren mit Kartentricks, eingemotteten Witzen, Chansons aus längst verpufften Montmartretagen. Und bald fallen die Clochards in die Lieder ein, grölen mit, schwingen im Takt die Flaschen. Schon wird eine Zerlumpte, Zahnlose hochgehievt, kreischend dreht sie sich aus einem Arm in den anderen. Und plötzlich sind auch ein paar Mädchen aus den bürgerlichen Quartieren eingetroffen, provozierend in Stilettos und Mini. Tanzen frenetisch mit hochgewachsenen Burschen, die unrasiert sind und nach Fusel stinken, aber Männer sind, Männer ... Schließlich trifft ein Pfarrer mit langer Soutane ein, wie damals noch üblich. Aus dem Podium ist ein Altar geworden, dünn steigt ein Weihnachtschoral auf, zu dem sich einige der Frauen bekreuzigen. 

Da auf einmal beginnt jemand zu schreien, es ist die Alte von vorhin. Sie fällt auf die Knie, hämmert mit den Fäusten auf den gepflasterten Boden. Die anderen singen ungerührt weiter, aber bei ihr ist es wahre Verzückung, die Religion hat sie gepackt, oder vielleicht auch die Scham, die Verzweiflung. Ein Polizist bringt sie hinaus, und später sehen wir sie am Seineufer geruhsam ihre Weinflasche schlürfen. Kurz nach zwei verdrücken sich auch die letzten, Freiwillige machen sauber. Es ist bitter kalt, Neumond.

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.