LI 90, Herbst 2010
Die Kunst des Dokufilms
Formen aus Bild, Ton, Bewegung, Umwelt, Geräusch, Musik und TextElementardaten
Textauszug
(Auszug/LI 90)
(...) „La vérité, c’est l’artifice“, die Wahrheit ist die Künstlichkeit, verkündet der große alte Mann des französischen Dokufilms, der sich Chris Marker nennt. Und rät gleichzeitig, den klassischen Begriff cinéma vérité (ursprünglich geprägt von jenem Russen, der sich Dsiga Wertow nannte, als Kino-Prawda) abzuändern zu ciné-ma-vérité, also: Kino meiner Wahrheit. Im gleichen Ton noch ein paar weitere schöne Aussprüche: „Was ich mache, ist vielleicht eine große Lüge, aber das beschwört die Wahrheit zutreffender herauf“ (Vincent van Gogh). „Selbst wenn ich in einem Dokufilm eine Fälschung nach der andern beginge, ergäbe sich daraus in der Summe eine tiefere und dauerhaftere Wahrheit als in einem Film, der sich allein auf Fakten stützt“ (Werner Herzog). „Man muß eine Reihe von Lügen zusammenstellen, um zu einer höheren Wahrheit zu gelangen“ (der iranische Filmemacher Abbas Kiarostami). Und Autor und Filmregisseur Jean Cocteau bringt es auf den Punkt: „Ich bin eine Lüge, die immer die Wahrheit sagt.“
Wie authentisch ist also die Realität? Hat nicht einst Goebbels seinen Kriegsfilmern verordnet, daß die deutschen Truppen im Bild grundsätzlich von links anzugreifen hätten – angeblich, weil man ja auch von links nach rechts schreibt und liest? In Wirklichkeit (er notierte es in sein Tagebuch), weil auch beim allseits beliebten Western die rettende Kavallerie die Indianer grundsätzlich von links aus angreift! Und weiter: Was wäre authentischer als der in hundert historische Montagen eingeschnittene Sturm der jungen Sowjettruppen auf das Winterpalais von Sankt Petersburg … außer daß die Szene aus einem Spielfilm von Eisenstein stammt (oder war es Pudowkin)? Siehe auch dreißig Jahre später das Zuschnappen der russischen Zangenbewegung hinter Stalingrad in der Wochenschau …: lauter fröhliche Fußsoldaten, die winkend aufeinander zu laufen, um sich zu umarmen, notabene ohne Panzer oder schwere Waffen. Aber auch das Hissen des Sternenbanners auf der eroberten japanischen Bergspitze war ja getürkt, nicht zu reden von der flatternden Siegesfahne 1945 auf dem Dach des Reichstags, wo überdies noch die geraubten Armbanduhren vom Handgelenk des einen Rotarmisten wegretuschiert werden mußten …
Authentizität? Hat nicht unser damaliger Kameramann Joschi Kaufmann beim Drehen einer primitiven griechischen Fischerhütte als erstes das Transistorradio aus dem Bild geschafft, um die archaische Stimmung zu bewahren? Und hat nicht schon im frühesten aller klassischen Dokumentarfilme, in Flahertys Nanuk, der Eskimo, dieser, schwitzend und dauernd ausrutschend, einen superschweren Seehund aus dem Eis herauszuzerren gehabt … wo wir heute wissen, daß in Wirklichkeit eine dicke Schiffskette unten an der Angel hing und der – längst tote – Seehund erst im letzten Moment daran aufgespießt wurde? Allerdings stand dem Regisseur damals nur eine Kamera mit zwei Minuten Rollenlaufzeit zur Verfügung. Und immerhin hat er nachher das Künstliche seiner Arbeit durch die Szene einsichtig gemacht, wo Nanuk zum ersten Mal im Leben ein Grammophon zu hören bekommt, das offensichtlich eigens dafür herangeschafft wurde.
Nun ja, Sie erkennen daran schon meine Auffassung, daß die Grenzen zwischen Spiel und Wirklichkeit fließend sind. Wo doch häufig schon das bloße Hinhalten der Kamera die Personen zu Darstellern ihrer selbst macht. Auch die üblichen Kommandos: „Vergiß die Kamera!“, „Schau nicht auf uns!“ und dergleichen führen nicht zu Authentizität. Keiner wirkt so künstlich wie jemand, der partout nicht in die Linse linsen darf, die ihn gerade ablichtet. Hier sind alte Kinoweisheiten am Werk, die mit unserem Metier nur wenig zu schaffen haben. Ganz im Gegenteil: Unsere beste Chance, echte Realität einzufangen, ist, diese beim Akt des Gefilmtwerdens zu zeigen, unsere Kamera bewußt eingreifen, ja, provozieren zu lassen. Sie und der Filmemacher samt Team sind damit ein Teil der Szene geworden, gehören dazu, ja, machen sie erst komplett. Darum dürfen zur Not Mikro und Kameraschatten im Bild bleiben, auch uns zuwinkende Leute; darum darf Kopfgeldjäger Stan Rivkin zum Team sagen: „Jetzt wird’s gefährlich, haltet eure Kamera versteckt“, darum darf Comickünstler Art Spiegelman in Auschwitz von uns verlangen: „Ich möchte, daß ihr mich hier beim Abzeichnen filmt“, und das tun wir dann auch in der nächsten Szene. Ist das Regie, Manipulation, also das Anathema des deutschen Dokufilmers? Hier kennen die Franzosen einen entscheidenden Unterschied, nämlich den zwischen mise en scène, „in Szene setzen“, also Regie führen, und mise en situation, also seine Person an einen bestimmten Ort, zu einem Vorgang hinbringen und dann beobachten, was passiert. Dazu als Musterbeispiel die oft besprochene Badezimmerszene in unserem Film Ron Kovic – Warum verschwindest du nicht? Ron, querschnittgelähmt aus Vietnam heimgekehrt, lebt jetzt Jahre später mit Freunden in Kalifornien. (Oliver Stone machte danach einen Spielfilm über ihn, mit Tom Cruise in der Hauptrolle: Geboren am 4. Juli.) Wir bitten Ron, für uns ins Bad zu steigen. Er kommt in seinem Rollstuhl hereingefahren, zieht sich nackt aus, leert seinen ekligen Urinbeutel über einen Schlauch in die Klosettmuschel, stülpt ihn neu an sein Glied. Läßt sich dann in die Badewanne fallen, wobei er noch versucht, seinen „toten Schwanz“ nicht allzu deutlich sichtbar werden zu lassen. Danach stemmt er, zu unserer Überraschung, auch den zweijährigen Sohn seines Freundes, den kleinen Zephyr, mühelos zu sich in die Wanne. Rons Oberkörper muskulös wie eh und je, nur unten ist alles weg. Zephyr hingegen strampelt und kreischt vor Vergnügen, kein größerer Gegensatz denkbar. Ende der Szene, die natürlich nicht am ers-en Tag zu drehen war, die wir aber doch an den Anfang des Films geschnitten haben. Der Zuschauer sollte erst einmal ganz körperlich spüren, was das heißt: Krieg, Verwundung, Behinderung; danach konnte man weitersehen.
Ron Kovic hatte ich, samt eindrucksvollem Photo, in irgendeiner Zeitschrift entdeckt, als ich noch ein Dutzend täglich las, immer auf der Lauer. (Damals konnte man sich seine Themen noch selbst herauspicken – natürlich nur, solange das Publikum mitzog … auch das müßte es wieder geben, wenn der Dokufilm nicht gänzlich verkommen soll.) Warum gerade Ron? Das ist die Art von Frage, die unsereins nur schwer beantworten kann, und doch geht sie an den Kern. Hand aufs Herz: Was man sucht in diesem Geschäft, sind doch die Menschen, die aus dem Schirm herausspringen, die wirken, die „herüberkommen“. Aber warum der eine es hat, dieses Charisma, diese Magie, der andere nicht, und sei er noch so bedeutend, berühmt oder intellektuell, blieb mir immer ein Rätsel. Bei Männern ist es vielleicht das Ewig-Jungenhafte, bei Frauen der Anschein sexueller Verfügbarkeit oder Erfahrung, aber das geht bestimmt nicht tief genug. (Früher einmal, in frecheren Zeiten, pflegte ich die Menschen vor unserer Kamera je nach den Filmmetern einzuteilen, die sie hergaben, bevor der Zuschauer sich sagte, jetzt weiß ich, was mit dem los ist, mehr will ich im Moment gar nicht wissen – ich selbst stufte mich unter die Acht-Minuten-Leute ein.) Dazu die Suggestion, sie könnten uns etwas beibringen, das wir so nicht kennen oder, besser gesagt, nicht ausgefühlt haben. Zum Beispiel, wie man Schwäche in Stärke verwandelt. Wie man seine Handicaps – wir alle haben sie – überwindet. Kurz, wie man richtig lebt, auch in den Zeiten der Cholera, indem man zu sich selber findet. Lebenshilfe, darum ging es uns unterschwellig, obschon man das den Sendern nicht unbedingt unter die Nase zu reiben brauchte.
Und Ron, der wußte das, der brachte das. Dieser analphabetische Junge, der nichts weiter kannte als Comics und John-Wayne-Filme. Er hatte es eben als Krüppel gelernt: Compassion lautete sein erlösendes Wort, Mitgefühl mit den Mitmenschen. Andere finden andere Mantras, andere Zaubersprüche, vielleicht ohne sie benennen zu können. Aber dahin wollte ich. Leute, die unterwegs waren. Die noch im Fluß waren. Auf der Suche (wie ich). Oder etwas gefunden hatten, das sie uns übermitteln konnten. Und zwar keine Meinungen, keine Ideologien, beileibe, sondern etwas dahinter, das Rettende eben.
Ja, aber wie bringt man Menschen dazu, das auszusprechen, was oft ihr Intimstes ist, was sie vielleicht selbst kaum ahnen? Mehr noch: dazu, es vor uns auszuleben, sich in ihren Schwächen und Ängsten vor der Kamera darzustellen, bloßzustellen? Nun, es liegt alles im Filmemacher selbst beschlossen, das ist es! Er muß eigenhändig den Schlüssel finden, dessen Name da lautet: Sympathie. Oder auch: Verständnis. Oder: Wissenwollen, wenn nicht gar: Wissenmüssen. Oder auch – aber das sage ich nur mit Zittern und Zagen: Liebe.
(...)