LI 95, Winter 2011
Sieben Schnappschüsse
Erinnerungen an bedeutende Photographen des 20. JahrhundertsElementardaten
Textauszug
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Kennengelernt habe ich Man Ray in seinem minimalistischen Atelier an der rue Férou. Dieser Wunderhöhle, diesem vollgestopften Zauberkabinett, gelegen in einem Erdgeschoß zwischen dem Jardin du Luxembourg und der Kirche Saint-Sulpice, das er jahrzehntelang bewohnte. Damals war er an die Siebzig, ein gedrungener, zerbrechlich wirkender Mann, die berühmten großen Augen hinter noch größeren runden Brillen verborgen. Er war in dem Alter, wo man sich schon abstrampeln muß, um sein Renommee zu bewahren. Und da kamen wir ihm mit diesem nostalgischen Fernsehprojekt, das nicht etwa „Magier Man Ray“ hieß oder sonstwie Schmeichelhaftes und Verkaufsförderndes. Sondern eine schlichte Dokumentation sein sollte, beruhend auf Hemingways eben erschienenem Memoirenband Paris – ein Fest fürs Leben. Dazu Man abwertend: „Hem kannte ich nur über irgendeinen Schnappschuß, den ich für seine Publicity anzufertigen hatte. Er war ein großer Sportsmann, und ich war ein großer Sitzmann, so hatten wir uns nicht viel zu sagen.“ Wer denn sonst noch bei uns vorkomme, erkundigt er sich. Gertrude Stein? „Die hörte ja nie auf zu reden. Wen sie alles kannte oder gekannt hatte oder kennenlernen würde. Mich nicht, Gott sei gelobt.“ James Joyce? „Der Verlag brauchte in Eile ein Umschlagphoto, so schickte man ihn zu mir. Gelesen habe ich dieses Zeug nie, war viel zu kompliziert für mich.“
Es ist offensichtlich, daß Man keinerlei Lust verspürt, in einem Film, der nicht ihm gewidmet ist, seine erschreckende Vielseitigkeit vorzuführen: Collage, Assemblage, Spritztechnik, Pochoir, Aerographie und wie die Techniken alle hießen. Immer war er unter den Pionieren, gar Erfindern. Allerdings ohne seine Sachen je ganz ernst zu nehmen: Have fun and hunt for liberty, diesen Satz sollten wir immerhin bringen über ihn und ihn ansonsten in Ruhe lassen. Aber natürlich fällt ihm gerade jetzt noch etwas ein, das er unbedingt drin haben möchte: „Auch das mit der ‘verlorenen Generation’ habe ich nie ganz kapiert. Ich hielt mich eher für die gefundene!“ Und mit plötzlicher Eingebung: „La génération trouvée. Also der Zufallsfund, den man spornstreichs zum Konzept umfunktioniert.“ Das alles in dem ordinären näselnden Brooklyn-Dialekt.
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Mit seiner dritten Frau, der hübschen und dreißig Jahre jüngeren Florette, habe ich Lartigue dann kennengelernt. Die Ponyfrisur nunmehr weiß geworden, das Gesicht schön faltig, vor allem um den fast immer lächelnden Mund. Und die runden Augen unverändert in ihrer jugendlichen Lebensfreude. Mit dieser Begeisterung hat er sich auch die köstlichsten Freunde erworben (Picasso, Cocteau, van Dongen) und sie in seinen feinen Autos (Delage, Hispano, Bugatti) herumkutschiert, dazu meist irgendwelche Frauen. Mit Florette – ihr Rundkopf wie „ein glänzender Apfel“ – unternimmt er einmal eine Ferienreise nach Amerika, natürlich auf einem billigen Frachter. Um die wenigen Mitpassagiere zu amüsieren, kramt er das Album heraus, in das er kunterbunt seine Lieblingsphotos eingeklebt hat. Jemand empfiehlt ihm das New Yorker Museum of Modern Art. Dort führt er tatsächlich seine Bilder vor, bekommt sofort eine Einzelausstellung und ist entdeckt – mit 68 Jahren!
Da ich das zu diesem Zeitpunkt für uralt halte, filmen wir ihn rund um Paris mit ausnahmslos starkem Seiten- oder Scheinwerferlicht, runzlig und greisenhaft. (Eine Entgleisung, die ich mir nie verzeihen werde.) Ihm ist es egal. „Um den Tod nicht zu fürchten, muß man sehr lebendig gewesen sein“, meint er. Gedenkt immerhin noch zwanzig Jahre (er wird es nicht ganz schaffen) malend und photographierend zu leben. Ob er uns seine Kunst definieren könne? Er sagt, mit einem Mal ernst: „Ich bin wie ein Marathonläufer, der Schmetterlinge jagt. Glauben Sie mir, das ist keine Spielerei, sondern ganz schön anstrengend, erfordert Disziplin und Training.“
„Also nichts passiert bei Ihnen von allein, wie es den Anschein hat? All diese schönen Dinge?“ Er streicht sich bedächtig über die Fransen: „Um Gutes zu finden, muß man dessen Gegensatz kennen, also das Böse. Ich bin nicht so naiv, wie Sie vielleicht glauben. Ich weiß, daß es ohne Dunkelheit keine Helligkeit geben kann, ohne Schwarz kein Weiß. Die Photographie beruht darauf. Und das Glücklichsein.“
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Unverschämtes Glück hat Bob Lebeck in weiser Selbsteinschätzung seinen Lebensrückblick genannt. Verschwieg aber dabei schamhaft, wie sehr besagtes Glück auch auf der Persönlichkeit dessen beruht, dem es zuteil wird. Dieser stattliche, gutaussehende Kerl mit dem Dauerschmunzeln und seiner unerschütterlichen Gemütsruhe, die schon manchmal an Phlegma grenzt … den hat Fortuna auch noch mit einem naturburschenhaften Charme ausgestattet, der ihm jeden, und sei es der Prominenteste, gefügig macht. Er wußte ihn stets zu nutzen.
Den Krieg als einer von Hitlers jüngsten Soldaten mit 15 einigermaßen gut überstanden, danach vier Ehen, vier begabte Kinder, allerhand Reisen, Abenteuer, unzählige und wohlbezahlte Reportagephotos, von denen mehrere um die Welt gingen … Und noch jüngst hat der Zweiundachtzigjährige den Schneid gehabt, sich ein neues Berliner Stadthaus samt Garten anzuschaffen (vielleicht wegen seiner überquellenden Sammlungen). Bei der Einweihungsparty durfte ich, weil zufällig in der Stadt, mit dabeisein; da kannten wir uns ziemlich genau 45 Jahre. Er berichtete illusionslos von seiner Kriegserfahrung: „Du lernst, daß nichts zählt außer dem eigenen Durchkommen. Daß jeder korrupt oder zumindest korrumpierbar ist. Daß man sich nie etwas vorschreiben lassen darf oder solche Vorschriften möglichst umgehen muß – das alles gilt für Krieger so gut wie für Photoreporter.“
Wir sprechen ihn auf sein Lieblingsthema an, „Sir Henry“, seinen langjährigen Brötchengeber beim stern: Henri Nannen. Ein Choleriker, der auch schon einmal mit Schreibmaschinen um sich warf. „Aber an mir hatte er einen Narren gefressen. Ich war sein Sonnyboy. Immerhin brachte ich unfehlbar den Speck in die Kammer, unter welchen Bedingungen auch immer. Dafür war Nannen dann auch bereit zu blechen.“
Gern erzählt Bob von dieser Glanzzeit der Photoreportage in den Sechzigern und Siebzigern, als er, der zupackende kontaktfreudige Frechdachs, unter „lauter eitlen Primadonnen“ dem Boß als numero uno galt. Bestimmt auch, weil Nannen sich selbst in diesem Glückskind wiedererkennen wollte. Oder jedenfalls sein besseres erträumtes Ich.
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