LI 96, Frühjahr 2012
Sieben wilde Weiber
Annäherungen – Von der Kaiserin der Kosmetik zur Lilie in der HölleElementardaten
Textauszug
(...)
Anaïs Nin
Zeitweise hatte sie, nach eigener Aussage, in Paris vier Liebhaber zur selben Zeit. Die letzten 25 Jahre ihres Lebens verbrachte sie dann als Pendlerin, hin- und hersausend wie ein Weberschiffchen zwischen amerikanischer Ost- und Westküste. Im Osten, in New York, der allzeit geduldige Gatte Hugo Guiler. Im Westen, in Los Angeles, und nach ihrer Aussage ebenfalls mit ihr verheiratet, der siebzehn Jahre jüngere Geiger Rupert Pole, angeblicher Neffe des Architekten Frank Lloyd Wright.
Lebenslang hat Anaïs Nin Tagebuch geführt. Von dem Moment an, als ihr Vater, der Konzertpianist Joaquin Nin, die Familie verließ, um sich seiner Karriere und einer jüngeren Geliebten zuzuwenden. Damals war Anaïs elf. Als ich sie treffe, ist sie in ihren Sechzigern. Sitzt im Pariser Café La Coupole und schreibt, was sonst, in ihr Tagebuch. Ein zierliches Persönchen, eine femme-fleur, der man kaum die Stürme der Leidenschaft zutrauen mag, die sie einmal entfacht haben muß … in sich selbst und in solchen Geistesheroen wie den Autoren Henry Miller und Gore Vidal, dem Psychoanalytiker Otto Rank und vielen anderen. Der erste Band ihres monumentalen Tagebuchs, dessen Gesamtumfang sie auf 15 000 Seiten schätzt, ist soeben erschienen und hat sie mit einem Schlag berühmt gemacht. Darin das Geständnis (oder die „schöpferische Lüge“), daß sie schon als Kind von ihrem Vater verführt worden sei. „Seitdem ist jede meiner Handlungen ein Akt der Verführung meines Vaters. Und jede Buchseite ein Buhlen um den Leser.“ Andere Zitate: „Schuld, Angst und Impotenz machen den Menschen grausam, und kein System schafft das aus der Welt.“ Oder: „Das Mitgefühl, nein, die Mitleidenschaft ist der einzige Schlüssel, der für jeden paßt.“ Oder auch: „Das ganze Mysterium des Genusses im Körper einer Frau liegt in der Intensität der Pulsation dicht vor dem Höhepunkt.“ Darauf folgend circa fünfzig weitere Angaben betreffs des weiblichen Orgasmus, mit einer Präzision, die alles in den Schatten stellt, was D. H. Lawrence seiner Lady Chatterley einst zuerkannte. (Nins erstes Buch ist diesem Autor gewidmet.) Das Analytische hat sie wohl von ihrem Liebhaber Otto Rank gelernt, Freuds Lieblingsjünger. Oder auch von Carl Gustav Jung, dessen Patientin sie zeitweise war. Und insbesondere von Henry Miller, dem „Gangster-Autor“. Mit dem sie ein Jahrzehnt lang und über hunderte von Briefen hinweg ihr gemeinsames erotisches Erleben durchdiskutiert … ob auch mündlich während des Erlebens mag man sich lieber nicht ausmalen. Anaïs: Hugo riecht nach Bank. Zwischen zwei von seinen Zärtlichkeiten sehne ich mich verzweifelt nach dir! Henry: Als ich anrief, war Hugo am Apparat. So charmant! Wie kannst du einen solchen Mann betrügen? Anaïs: Ich kann eben mehrere Männer gleichzeitig lieben. Henry: Heirate mich! Anaïs: Ich werde ihn nie verlassen, wie du alle deine Frauen. Henry: Fein. Dann sage ich ihm alles. Anaïs: Noch ein Wort und ich mache Schluß!
Gemeinsam beschließen sie, ihr Tagebuch so umzuschreiben, daß Hugo, falls er es je entdeckt (man denkt mit Schaudern an Tolstoi und seine Gattin), annehmen muß, es handle sich um ein Werk der Fiktion! Welch weltliterarische Tragikomödie!
Jetzt stehen wir mit Anaïs vor der berühmten Dichterklause, der Nr. 8 des Sackgäßchens Villa Seurat am Montparnasse. Henry bewohnte damals den zweiten Stock, sie den ersten, behauptet sie. Und, Moment: Da war doch noch June, die schöne Broadway-Tänzerin und zeitgleiche Gattin des Vielverheirateten (fünf Ehen, fünf Scheidungen), die ja nicht weniger in eine Beziehung mit Anaïs verstrickt war. Was natürlich zu unzähligen weiteren Tagebuchseiten Anlaß gibt. Wir klopfen an die Haustür, aber es wird uns nicht aufgetan. Anaïs schwärmt zu unserer Kamera von Henry, der es vom Tellerwäscher und Telegrafenboten in Brooklyn endlich mit 45 zum Hausautor der berüchtigten Pariser Olympia Press brachte, mit Wendekreis des Krebses. Zu dem auch sie ihr gerüttelt Maß beigetragen haben will, denn was wußte er schon vorher vom weiblichen Orgasmus? „Henry sagt, dieses Haus ist ein Seelenlabor. Jedes Gefühl geht hier durch Röntgenstrahlen … Ich möchte jetzt nur mehr für die Ekstase leben. Eine Sexualität, um alle Thermometer zu sprengen.“
Danach geht es zum Seine-Kai, wo Anaïs in den Zwanzigern ein Hausboot, „La belle Aurore“, von einem jungen Schauspieler anmietete, welcher seinerseits aussiedeln mußte, weil seine geliebten Affen dort seekrank wurden. Es ist Michel Simon, der große Menschendarsteller des französischen Films, den wir im Taxi hierher bringen ließen. Nur leider erinnert er sich an nichts mehr aus seinem Leben. Angeblich hat ihm ein ungeschickter Friseur mit einem giftigen Bartfärbemittel das Gedächtnis gelöscht. „So spielt das Schicksal − mein Leben vernichtet von einem Barbier.“ Anaïs deutet auf die große Bahnhofsuhr gegenüber an der Gare d’Orsay (heute Museum des 19. Jahrhunderts): „Michel, erinnern Sie sich noch, was die immer geschlagen hat? Man muß lieben, lieben, schnell, schnell, die Zeit vergeht …“ Dazu der alte Simon, schon nicht mehr von dieser Welt: „Ach ja, man lebt von Erinnerungen.“
Am folgenden Wochenende nach dem Dörfchen Louveciennes, zu dem bröckeligen Landhaus aus dem 18. Jahrhundert, das Anaïs mit ihrem Gatten Hugo einst bewohnte. Wenn sie nicht gerade in der Villa Seurat oder auf dem Hausboot oder (sie zählt noch weitere „Ateliers“ auf) als Tänzerin, als Malermodell, als Psychoanalytikerin oder als Geliebte beschäftigt war. Anaïs trägt jetzt ein schwingendes schwarzes Cape, ihr geliehen von ihrer Freundin, der Schauspielerin Jeanne Moreau. Dazu folgender Dialog: Jeanne: „Die Art, wie eine Frau denkt, mit Umwegen und Abkürzungen, führt zu dauernden Mißverständnissen beim Mann. Das bringt dann wieder die Frau aus dem Gleichgewicht.“ Anaïs: „So verlegen wir uns auf Konzessionen und verlieren damit unser Eigentliches.“ Jeanne: „Sie haben als erstes die Frau mit sich selber ausgesöhnt.“ Anaïs: „Mein Anliegen war stets, die Frauen vom Masochismus zu befreien.“ Und so schnurren die beiden einander noch reichlich Selbstgestricktes zu, halb sanfte Katzenmamas, halb ausgekochte Pariser Salonbestien.
Dann wird es Zeit, von Hugo Guiler zu reden, Nins Gatte seit über vier Jahrzehnten. Der ihr, als Leiter der Pariser Filiale einer amerikanischen Bank, nicht nur diese Villa spendieren konnte, sondern lebenslang ein komfortables Dasein. Im Tagebuch kommt er nicht vor. Muß aber nicht nur von allen ihren Aventüren etwas gewußt haben, sondern hat sie aus purer Liebe klaglos hingenommen, ja finanziert. Ein berühmtes Foto zeigt Henry Miller hier auf der Eingangstreppe sitzend, grinsend als wäre er der Hausherr. Anaïs, in dem mitgebrachten ersten Band des Tagebuches blätternd, findet die Stelle: „Henrys Augen sind kalt, aber sein Mund voll und sinnlich. Er ist ein Mann, den das Leben trunken macht.“ Wozu Jeanne Moreau ein leicht mokantes Lächeln aufsetzt, vielleicht weil sie solchen Mann nie gefunden hat.