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Cover Lettre International 53, Rebecca Horn
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Inhaltsverzeichnis

LI 53, Sommer 2001

Schwerelos um Heimat Erde

Das Leben im All - Das All im Leben (im Gespräch mit Sergei Krikalev)

(...) Andrei Ujica: In psychologischer Hinsicht besteht die wichtigste Veränderung vermutlich im Verlust ganz wesentlicher Orientierungspunkte. Im Unterschied zu unserer Lage auf der Erde, wo wir mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehen, weil die Schwerkraft eine "universelle" stabile vertikale Achse erzeugt, verschwindet diese in der Schwerelosigkeit. Welche Konsequenzen hat das im einzelnen?

Sergei Krikalev: Auf der Erde gibt es zwei sich entsprechende horizontale Achsen: vorne/hinten und rechts/ links. Hiervon unterscheidet sich die vertikale Achse oben/unten. Im Weltraum sind sie alle gegeneinander austauschbar. Und im Grunde genommen ist das auch völlig normal. Denn an sich sind jegliche Richtungen gleichrangig. Warum sollte ein hierarchischer Unterschied zwischen der Vertikalen und der Horizontalen bestehen? So kann ich im All auf einer Wand der Kabine schlafen oder an der Decke arbeiten. Um dennoch die uns vertrauten Orientierungspunkte zu ermöglichen, benutzt man in der Raumstation Hilfsmittel wie Licht und Farbe. Man ahnt kaum, welche aufwendigen psychologischen Untersuchungen dem Bau einer Raumstation zugrunde liegen, mit dem einzigen Zweck, die Entfremdung der Kosmonauten von zu Hause so gering wie möglich zu halten. Die Decke, oder genauer gesagt, die als solche bezeichnete Fläche, unterscheidet sich durch ihre weiße Farbe und die Beleuchtung von den anderen Flächen, obwohl man dort genauso gut schlafen wie arbeiten kann. Dementsprechend hat das, was als Boden definiert ist, wiederum eine andere Farbe. Doch auch hierbei handelt es sich, genau wie bei den als Seitenwände bestimmten Flächen, um nichts anderes als eine den anderen vollends vergleichbare Wand. So werden also einfache Orientierungspunkte künstlich erzeugt, wo in Wahrheit alle Richtungen gegeneinander austauschbar sind. Man könnte ebensogut die Raumstation auf den Kopf stellen, ohne dabei die Referenzachsen zu verändern. Trotz allem ist es eigentlich falsch zu behaupten, daß im Weltraum alle Richtungen gleich wären. Das stimmt zwar in physikalischer Hinsicht, denn im Verhältnis zum Gravitationszentrum sind sie in der Tat ebenbürtig. Da man jedoch in einer Raumstation nichts weiter tut, als um die Erde zu kreisen, ist man ihrer Anziehungskraft nach wie vor ausgesetzt. Und zwar in zweifacher Hinsicht: d.h. auch psychisch. Deshalb schenkt man der Erde eine besondere Beachtung. So unterscheidet sich dann doch eine Richtung von allen anderen. Es ist die der Erde. Und indem man ständig in eine Richtung schaut, wird man sich ihrer auch bewußt. Genauso wie es hier unten geschichtsträchtige oder persönlich emotionsgeladene Orte gibt, die uns immer etwas bedeuten, so ist es im All die Erde als Ganzes. Somit kann ihre Richtung auch keine wie alle anderen sein.

Es muß ein eigenartiges Gefühl sein, für eine gewisse Zeit kein Gewicht mehr zu haben …

Weißt du, das körperliche Empfinden in der Schwerelosigkeit gleicht dem beim freien Fall. Wenn man von einem Baum herunterfällt, ist das Gefühl, das die kurze Zeit bis zum Aufprall auf den Boden dauert, genau dasselbe wie im Zustand der Schwerelosigkeit. Ein ziemlich merkwürdiges Gefühl. Viele Menschen kennen es aus dieser Art von Träumen, die sie aus dem Schlaf auffahren lassen. Bei einem Weltraumflug fängt man an "zu fallen", sobald man in die Erdumlaufbahn eintritt. Die Antriebsdüsen werden ausgestellt, die Beschleunigung ist zu Ende, der Fall beginnt. Und dieser Zustand hört erst bei der Landung wieder auf. Es ist keine Sache von einigen Augenblicken oder Traumminuten, sondern es hält Monate an. Schließlich gewöhnt man sich daran, doch unter diesen Bedingungen ist es anfangs sogar schwierig, überhaupt zu schlafen. Nun stell dir vor, du springt aus einem Flugzeug, und bis sich der Fallschirm öffnet, mußt du versuchen, ganz normal zu leben: deine Arbeit machen, dich ausruhen usw. Genau das ist es, was die Schwerelosigkeit ausmacht.

(...)

Ich würde jetzt gern mit dir über den Blick aus dem All reden. Erinnerst du dich noch an das erste Mal?

Wenn ich versuche, es dir zu erzählen, so werde ich an der Sprache scheitern. Denn wir haben es hier mit dem entscheidenden Unterschied zwischen tatsächlich Erlebtem und der Vorstellung dessen zu tun. Was letztendlich für jede Grenzerfahrung gilt. Jeder weiß, daß der Himmel im All schwarz ist. Wenn man aber mit seinen Augen gesehen hat, wie die Sonne am schwarzen Himmel erscheint und die Sterne der Sonne ganz nah sind, dann ist das unbeschreiblich, im wahrsten Sinne des Wortes. Weißt du, die Sterne leuchten, ohne zu glänzen. Blickt man auf die Erde, so ist manches sofort zu erkennen. Manchmal jedoch weiß man nicht mehr, wo man gerade ist. Als ich bei meinem ersten Weltraumflug zum ersten Mal zur Erde zurückschaute, habe ich zunächst den Ozean und dann das Festland gesehen. Es war Südamerika. Eine Region am anderen Ende der Welt, in der ich nie zuvor war, und die ich jetzt, wenige Minuten nach dem Start, durch das Bullauge betrachten konnte. Ich sah den Ozean, unberührte Urwälder, riesige Flüsse. Landschaften, die es für mich vorher nur auf Fotos gab, zogen auf einmal an meinem Fenster vorbei. Ich konnte sogar Stürme über dem Ozean sehen. Wie soll ich sagen - es ist ungefähr so wie der Unterschied zwischen einem Foto und dem Kino oder dem Kino und der Wirklichkeit. Kinder, die groß genug sind, um selbst zu reisen, machen in etwa die gleiche Erfahrung: Sie kennen z.B. eine Stadt aus Erzählungen oder aus Büchern, sind sie aber zum ersten Mal dort, so erhalten sie auf einmal ein anderes Bild von ihr. Wenn man auf einem Weltraumflug all die Regionen der Erde mit eigenen Augen gesehen hat, dann ist es nie mehr wie früher. Diese Eindrücke prägen sich einem unauslöschlich ein.

(...)

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.