LI 79, Winter 2007
Der Abstieg der Neun
Eine Geschichte aus dem Griechischen Bürgerkrieg. Mit einem Nachwort des Übersetzers Ulf-Dieter KlemmElementardaten
Genre: Erzählung
Übersetzung: Aus dem Griechischen von Ulf-Dieter Klemm
Textauszug
AM 26. Oktober 1948, dem Tag des heiligen Dimítrios, gerieten wir in einen Hinterhalt. Es war das erste Mal. Wir waren auf dem Rückweg von Panajiá, hatten getrunken, getanzt, und wenn sie nicht so stümperhaft geschossen hätten, wäre keiner von uns übriggeblieben.
Wir merkten, daß die Zeiten sich allmählich änderten. Liarós wurde dort am Bein verletzt. Drei Monate hat er gelitten. Mit Olivenöl und Rote-Bete-Blättern haben wir ihn notdürftig verarztet.
Im Januar wurde die Neunte Division auf die Peloponnes verlegt. Wir begriffen, daß sie uns in die Enge treiben würden, hatten auch das Wetter gegen uns. Bis März blieben wir im Taygetos-Gebirge. Dann schickten die anderen die Gebirgsjäger los. Als unser Kommandant Zacharías sah, was bevorstand, gab er Befehl, uns zu zerstreuen.
Mit Kapetán Nikítas und sieben weiteren Genossen zogen wir Richtung Sparta. In den Dörfern Logástra und Sustiáni ließen wir uns nieder, wir hatten dort Angehörige.
Zwei Monate versteckten wir uns in der Kelterei, warteten auf Nachricht. Als der Sommer kam, mußten wir weg, man fing an, über uns zu reden. Damals erfuhren wir aus den Zeitungen, daß Zacharías sich ergeben habe. In unserer Isolierung glaubten wir es nicht, hielten es für Propaganda.
Eines Nachts stiegen wir hinab nach Karavás, überquerten den Evrótas und hielten uns ans andere Ufer. Bis zum Fluß kannten wir die Gegend gut. Jorguléas sagte, er habe in Vurliá einen Schwager von seiner ersten Frau. Dorthin zogen wir:
Noch in derselben Nacht erreichten wir den Ort und warteten am Dorfrand, daß es hell werde. Am Morgen sahen wir Leute sorglos ihren Arbeiten nachgehen. Wir saßen auf glühenden Kohlen. Im Lauf des Tages sahen wir auch Gendarmen.
Bis zum Abend saßen wir unschlüssig herum. Bratítsas blickte zurück zum Taygetos.
– Nikíta, sagte er, zurück geht’s nimmer.
Er war groß, hatte blaue Augen, ein kräftiger Mann von wenigen Worten.
Mit Einbruch der Nacht zogen wir wieder los. Unter uns glänzte der Evrótas. Wir machten einen Bogen um das Dorf, überquerten die Landstraße und drangen in den Wald ein.
Niemand von uns war bisher im Malevó-Gebirge gewesen. Wir kannten nur die uns zugewandte Seite, die man von unseren Höhen aus sah. Ich stammte aus Kalamáta, konnte immer den Taygetos sehen, ging es mir durch den Kopf, aber jetzt war der Berg verstummt.
Am dritten Tag erreichten wir Aráchova, Zacharías’ Dorf. Es wimmelte von Soldaten. Wir trafen auf Hirten, denen wir Brot stahlen. Bis dahin waren wir nur nachts marschiert. Aber das Gelände war schwierig, und wir begannen auch am Tag zu laufen. Bis wir die letzten vertrauten Landschaftsmerkmale aus den Augen verloren. Zum Schluß brachten wir Tag und Nacht durcheinander und verloren die Orientierung.
Für zwei Wochen ließen wir uns in einer Schlucht nieder. Oberhalb unseres Rastplatzes brachte jeden Mittag ein weißhaariger Alter seine Schafe zur Weide. Wir beobachteten ihn, und sobald er sich zum Schlaf hinlegte, krochen wir auf dem Bauch hin, legten uns rücklings unter die Schafe und saugten deren Milch. Wasser gab es auch in der Nähe, ein guter Ort. Wir überlegten, dort zu bleiben. Konstandarákos hatte ein Kabel aus seinem Rucksack gezogen und an der Quelle Schlingen ausgelegt für Hasen. Am nächsten Tag geriet der Wald in Brand. Es war eine Gluthitze, die Samen der Wildpflanzen sprangen auf, sobald man sie berührte. Wahrscheinlich hatte sich das Feuer selbst entzündet. Aus den Dörfern eilte man herbei einschließlich Soldaten. Wir konnten uns gerade noch rechtzeitig zurückziehen, fast hätten sie uns eingeschlossen.
Der Atem des Feuers verfolgte uns. Bis zum Einbruch der Nacht spürten wir ihn im Nacken. Bei Tagesanbruch marschierten wir noch immer. Wir ließen den Wald hinter uns, gerieten auf einen Höhenzug, nackt wie ein Kuhrücken. Wir liefen und liefen, es nahm kein Ende. Vor uns versengte Erde, der Horizont in Flammen. Nikítas wandte sich an Bratítsas.
– Was meinst du, Kostí?
Bratítsas zog stumm die Lippen zusammen, löste das dreckige Taschentuch vom Hals und wischte sich den Schweiß. Eine spürbare Freundschaft verband die beiden.
Konstandarákos setzte sich auf den Boden und zog den Stiefel aus. Sein Fuß war geschwollen wie ein Dudelsack.
– Er quält dich, sagte Nikítas. Was hätte er ihm auch sagen sollen.
Konstandarákos nahm den Stiefel in die Hand, und wir brachen auf. Wir überquerten eine Paßhöhe und stiegen auf der anderen Seite hinab. Unter uns erschien ein Talkessel mit blühenden Kartoffelfeldern. Wir blieben stehen und sahen uns das an. In der Mitte eine Wellblechhütte, etwas weiter ein Brunnen mit Schöpfrad. Plötzlich zuckt Bratítsas zurück, als habe ihn was gestochen, und erstarrt. Instinktiv machen wir es ihm nach. Auf dem Brunnenrand saß ein barhäuptiger Mann und aß. Wir bemerkten ihn, als er sich nach dem Eimer streckte.
Nikítas rief Konstandarákos zu:
– Geh runter und tausch deine Stiefel aus. Und frag, wo wir uns befinden.
Der Bauer warf den Eimer in den Brunnen und zog Wasser hoch. Als er sich zum Trinken beugte, entdeckte er Konstandarákos mitten im Farn. Er richtete sich auf und wartete. Wir sahen, wie er ihm die Hand hinstreckte. Konstandarákos blieb in einiger Entfernung stehen, gab ihm seine nicht. Anscheinend bat er um Wasser. Der Bauer bückte sich, ergriff den Eimer, um ihn ihm zu reichen, stülpte ihn jedoch plötzlich mit unerwarteter Behendigkeit Konstandarákos über den Kopf. Mit einem Satz griff er nach seiner Hacke, um sich auf ihn zu stürzen.
Ein Schuß fiel, und der Bauer klappte zusammen. Bratítsas setzte den Karabiner ab und gab ihn Kutsós zurück. Wir kannten seine Schnelligkeit, hatten sie schon bei anderen Gelegenheiten erlebt. Die MP hatte er vor sich auf den Boden geschmissen.
Wir stiegen hinab zum Brunnen. Der Bauer war auf die Seite gefallen, die Augen offen, die Haare wirr, ein ungeformtes Erstaunen auf seinem ganzen Gesicht.
Konstandarákos hatte den Eimer vom Kopf gezogen, er war klatschnaß, eine Augenbraue war aufgeplatzt.
– Einer muß hinaufsteigen zur Paßhöhe, sagte Nikítas besorgt.
Er wandte sich an Ligítsos. Der verschwand im Laufschritt. Jorguléas ließ den Eimer hinab und zog ihn mit Wasser gefüllt hoch. Nikítas zog den Toten an den Füßen und stieß ihn in den Brunnen. Danach ging er zur Hütte und trat die Tür auf. Sie war leer bis auf ein kaputtes Sprühgerät und einige verfaulte Säcke. Auf dem Brunnenrand lag ein Tuch mit den Resten der Mahlzeit des Bauern. Feuchtes Brot, eine halbe Tomate mit Bißspuren und Käsekrümel. Kutsós aß alles auf..
(...)