LI 148, Frühjahr 2025
Algeriens Integrität
Befreiung, Nationalismus, Militärregime – Plädoyer für Boualem Sansal
Elementardaten
Genre: Essay, Historische Betrachtung
Übersetzung: Aus dem Französischen von Joachim Kalka
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Textauszug
„Es war nicht weiter überraschend, daß der scheidende algerische Präsident Abdelmadjid Tebboune am Sonntag, den 8. September, für eine zweite Amtszeit wiedergewählt worden ist. Der Wahlaufsichtsbehörde zufolge hat er 94,65 Prozent der abgegebenen Stimmen erhalten. … Der französische Präsident Emmanuel Macron hat ihm seine ‘herzlichsten Glückwünsche’ zur Wiederwahl übermittelt und dabei die ‘besondere Verbindung’ zwischen beiden Ländern trotz wiederkehrender Krisen betont.“ (Le Monde, 8. September 2024)
„Bei seiner Ankunft in Algerien am Samstag, den 16. November, ist unseren Informationen zufolge der Schriftsteller Boualem Sansal von der Polizei verhaftet worden.“ (Marianne, 21. November 2024)
„Aber aus welchen Gründen hat die algerische Regierung die Verhaftung von Boualem Sansal veranlaßt, der Algerier und seit 2014 naturalisierter Franzose ist, geboren in Theniet El Had (Tissemsilt) als Sohn eines Mannes marokkanischer Herkunft? … Vom Standpunkt Algeriens aus bezeichnen Sansals Verlautbarungen eine Linie, die nicht überschritten werden darf. Eine rote Linie, die ihm eine Anklage wegen ‘Angriffs auf die nationale Integrität’ eintragen könnte, wie sie das algerische Strafgesetzbuch vorsieht.“ (El Watan (Algier), 24. November 2024)
Man tut wohl besser daran, an bestimmten Örtlichkeiten das letzte Wort dem Militär und dessen Sachwaltern zu überlassen. Alle die Generäle, Obristen und die Befehlskette ihrer Untergebenen würden zustimmen, insbesondere jene, die seit sechs Jahrzehnten die Geschicke Algeriens lenken, mit ihren Höhen und Tiefen. „Besser“ hat natürlich einen doppelten Sinn. Vielleicht geht es um Weisheit, vielleicht um Klugheit.
Das Haupt des Barbarossa
Wer immer sich erdreistet, auf die eine oder andere Weise, schriftlich oder mündlich, die territoriale Integrität Algeriens anzugreifen, eines Maghreb-Landes an der Mittelmeerküste zwischen den Bruderländern Tunesien im Osten und Marokko im Westen, der sieht sich mit der Härte des Gesetzes konfrontiert und fällt unter den Artikel 87, Absatz zwei des Strafgesetzbuches, welcher den Tod oder zumindest die lebenslange Haft vorsieht. Es wäre also davon abzuraten. Vor einem Vierteljahrhundert wurde von Alfred Jarrys Stück König Ubu in Algier eine arabische Version erstellt, doch fand sich kein Theatersaal für eine Aufführung.
Wer leichtfertig, absichtslos, unvorsichtig sich anschickt, über den elastischen Charakter der algerisch-marokkanischen Grenze herzuziehen, der (sei er nun ein unverständiger junger Schulabsolvent oder ein vom Leben mitgenommener Fünfundsiebzigjähriger) sollte zusehen, daß er keinen Schaden nimmt. Denn er riskiert es, ohne Vorwarnung für längere Zeit aus dem Verkehr gezogen zu werden. Wusch! Ins Kittchen, in die Zelle, in den tiefen Kerker. Und es werden sich weitaus mehr Leute finden, als man glauben möchte, die das nicht weiter beklagen, hat er doch, wie’s scheint, das Nationalgefühl gröblich verletzt.
Mit Bezug auf die Grenze, welche Algerien von Marokko trennt, wurde 1877 eine Karte im Maßstab eins zu 200 000 veröffentlicht, angelegt vom topographischen Dienst des 19. Armeekorps, in welchem gewiß niemand im Traum daran dachte, die räumlichen Verhältnisse in Zweifel zu stellen. Die Karte war klar und gut leserlich, denn zur Bezeichnung der Grenze verlief eine Linie aus kleinen roten Kreuzchen in aleatorischem Zickzack vom Mittelmeer zum Djebel Sidi-Labed. Umgekehrt gab es die Karte, die beruhend auf den Erhebungen des Generalstabs nach dem Grenzübereinkommen vom 18. März 1845 herauskam, unter der Aufsicht des Schwadronschefs Edmond de Martimprey, Graf, ausgebildet in Saint-Cyr – eine in der Tat umgekehrte Karte, weil der Süden oben ist und der Norden unten, was das Auge verletzt und den Geist verwirrt, jedoch eine Karte, welche den Vorteil hatte, daß ihre Bezeichnungen auf französisch sowie arabisch gegeben wurden, um die Präzision der Orte und die Übereinkunft der beteiligten Parteien zu garantieren. Dazu käme noch die Generalkarte von Algerien, welches sich vom „Marokkanischen Königreich“ bis zur „Regentschaft von Tunis“ erstreckt, angelegt nach kostbaren Dokumenten, welche die Kriegs- und Marineministerien gesammelt hatten; auf ihr kann man die punktierte Linie der „natürlichen Grenzen Algeriens“ sehen.
Gewiß blieb bei alledem ein Problem bestehen, das man aus der alten oder uralten Geschichte geerbt hatte; darüber sprach der Hauptmann de Mas Latrie vom Neunten Artillerieregiment ausführlich in Castres am 13. Februar 1909: „Herr General“ (so begann er, denn er wandte sich zuvörderst an seine betreßten Kollegen), „die geologischen und geographischen Studien beweisen, daß Marokko keineswegs eine von Algerien unterschiedene Region ist, sondern nichts anderes als dessen natürliche Verlängerung.“
(…)
Nach den Maskeraden
Kurz nach der provisorischen Beendigung des elenden Wüstenkrieges an der algerisch-marokkanischen Grenze wurde Mohamed Boudiaf freigelassen, in derselben Art und Weise, wie man ihn entführt hatte, ohne irgendeine Begründung, ohne Mandat oder Dokument, ohne daß er jemals vor irgendeiner richterlichen Autorität gestanden hätte. Eines Abends schoben ihn die Handlanger der Gendarmerie in ein Auto, und man brachte ihn nach Algier zu seinem Haus. Am 16. November 1963, der auf einen Samstag fiel. Da er sich nicht verkaufen wollte, konnte Boudiaf nicht gekauft werden. Ein Jahr später, im Exil in Frankreich, wiederholte er seine unangenehmen Ansichten und rief der Macht ins Ohr: „Das gegenwärtige Regime in Algerien ist reaktionär und stützt sich auf Polizeigewalt, es ist korrupt und neobourgeois, unfähig und bürokratisch.“ Dieser dreiste Trotz brachte den Präsidenten Ben Bella dazu, daß er seinen ergebenen Außenminister Abdelaziz Bouteflika in spezieller Mission nach Paris schickte (ihn, der den Schnurrbart von Omar Sharif trug), um General de Gaulle zu umgarnen und schließlich einzuschüchtern. „Seltsames Anliegen Algeriens in Paris“, staunte die europäische Presse. Da die Sache dringend schien, schob de Gaulle seinen Aufbruch nach Colombey-les-Deux-Églises auf und empfing Bouteflika im Élysée zu einer besonderen Audienz, über eine Stunde lang an einem Samstagmorgen, das heißt, den Kennern zufolge, zu einem Gespräch „länger als diejenigen, welche der General gewöhnlich gewährt“. Der Tenor der Botschaft, murmelte man, wäre wohl gewesen: „Verhindern Sie jegliche oppositionelle Aktivität in Frankreich, oder Algerien tritt von allen seinen Verpflichtungen zur Zusammenarbeit zurück.“ Die Archive werden vielleicht eines Tages das letzte Wort haben.
Die Jahre vergingen, die Jahre wuchsen an und wichen anderen Jahren, die Jahrzehnte gesellten sich zu Jahrzehnten, das Regime wurde stabiler, überwand die Hindernisse, überstand sogar die schlimmsten Schwierigkeiten, als zu einer Zeit, da auf dem ganzen Planeten die Ideen des Fortschritts und der Universalität auf dem Rückzug waren, der aufbrandende Islamismus beinahe die arabische Welt eroberte und sie teilweise tatsächlich in Wellen von Blut und einer Entfesselung von Greueltaten und Barbarei mit sich riß.
Mohammed Boudiaf, als Retter an die Staatsspitze berufen, wurde im Juni 1992 ermordet (zu Beginn des islamistischen Desasters), ohne daß man bis auf den heutigen Tag wüßte, wer die Verantwortlichen für den Mord waren und was der Grund war (am wahrscheinlichsten ist es, daß dieser in Boudiafs Entschlossenheit zu suchen ist, die Korruption auszurotten, welche den Staat überall durchsetzte).
Hocine Aït Ahmed starb ruhig mit 89 Jahren in seinem Exil in der Schweiz. Ebenfalls exiliert und in absentia zum Tode verurteilt, wurde Krim Belkacem in einem deutschen Hotelzimmer im Oktober 1970 umgebracht. Er hatte sich in der Schweiz aufgehalten, und ein geheimnisvoller libanesischer Geschäftsmann hatte sich mit ihm nach Frankfurt ins Hotel Intercontinental verabredet; er ging hin. Drei Männer, unter falschen Namen registriert und im Besitz von marokkanischen Pässen, erwarteten ihn. Man fand seine Leiche in einem der Zimmer, er war erwürgt worden. Die drei „Marokkaner“ waren verschwunden, ohne ihre Rechnung zu begleichen.
Mohamed Khider wurde von fünf Pistolenkugeln (neun Millimeter Parabellum) niedergestreckt, die zwei Männer „von algerischem Typus“ vor seinem Haus in Madrid abfeuerten, an einem Januardienstag 1967 um 21 Uhr 45. In Brust und Kopf getroffen, starb er im Taxi auf dem Weg ins Krankenhaus. Er hatte die Kriegskasse der FLN verwaltet, geschätzt auf 60 Millionen Schweizer Franken, sicher angelegt bei arabischen Banken in Genf und Zürich mit widerlichen, schwefelstinkenden Geschäftsführern. Zweimal in seiner Wohnung in Kouba verhaftet, unter Ben Bella und Boumédiène, und nach einigen Monaten der Zurückgezogenheit oder Verbannung in der Sahara, wurde Ferhat Abbas, der einstige Präsident der GPRA und der konstituierenden Versammlung, ein Jahr vor seinem Tode 1985 „rehabilitiert“. Man verlieh ihm die algerische Medaille der Résistance, die er durchaus verdient hatte; seine Bücher blieben in Algerien verboten.
(...)