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Cover Lettre International, Stanislas Guigui
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Inhaltsverzeichnis

LI 105, Sommer 2014

Der letzte Überlebende

Zar, Matrosen, Henker - Die Meuterei auf dem Panzerkreuzer "Potemkin"

Schuld an allem war das Fleisch. Dieser von Würmern wimmelnde faulige Abfall, den der Smutje den Männern der Besatzung vorsetzte und den der Bordarzt durch seinen Kneifer beäugte und als ausgesprochen wohlschmeckend beurteilte. „Was denn? Das Fleisch da ist sehr gut!“ diagnostizierte kurz und knapp Doktor Smirnow, der Facharzt mit Hochschulabschluß. Das Weitere kennt man. Unruhe, Murren, Aufruhr. Der Kommandant des Schiffes, ein etwas weichlicher Dicker, sagt mit kraftlos drohendem Unterton: „Zwei Schritt nach vorn, wer den Borschtsch essen will.“ Außer den Speichelleckern rührt sich niemand. Der Erste Offizier, ein arroganter Leuteschinder, springt in die Bresche: „Einen Schritt nach vorn, wer den Borschtsch essen will.“ Außer den Arschkriechern tritt keiner vor. Dann geht der Kommandant ab, der Leuteschinder verliert die Nerven, ereifert sich, schreit, stampft auf, beschimpft die Männer als Meuterer, befiehlt der Wache, ein Segeltuch zu bringen, wie es einem unheilvollen Ritus entspricht, die Aufrührer zusammenzutreiben, um sie auf der Stelle zu erschießen oder ihnen eine Heidenangst einzujagen. Nun reißt ein Genosse das Maul auf, der Quartiermeister Matuschenko, Afanassi Nikolajewitsch Matuschenko, ein stämmiger Kerl mit breitem Gesicht, streng erzogener Sohn ukrainischer Bauern, Anhänger des Umsturzes. Und er sagt … Tatsächlich weiß man nicht genau, was er gesagt hat. Es gibt mehrere zweifelhafte Darstellungen seiner Äußerungen. Ein nüchterner und außerordentlich kurz gefaßter Bericht legt ihm diese Worte in den Mund: „Lassen wir uns nichts mehr gefallen! Sie wollen unsere Genossen erschießen! Erschlagen wir diese Ungeheuer!“ Manche Memoirenschriftsteller mit einer ausgeprägten lyrischen Ader haben geglaubt, sorgfältiger ausgefeilte musikalische Sätze zu vernehmen: „Mein Bruder! Mein Freund! Mein Sohn! Mein Genosse! Du wirst nicht auf jemanden schießen, der leidet und sich beklagt! Mein Bruder! Mein Freund! Ich mache dich zu unserem Richter. Ein Seemann schießt nicht auf einen anderen Seemann! (…)“ Sie drehten ihre Karabiner in die andere Richtung … „Potemkin“. Der Matrose Wakulintschuk, Grigori Wakulintschuk, ebenfalls ein Ukrainer, schoß in diesem Augenblick in die Luft, und der Erste Offizier, der endgültig außer sich geraten war, jagte ihm sogleich eine Kugel in den Bauch. Wakulintschuk brach zusammen. Danach brauchten die Offiziere, sie alle ohne Ausnahme, natürlich nur noch ihre Knochen zu zählen. Matuschenko erledigte den mörderischen Leuteschinder mit einem Schuß, und er wurde sofort über Bord geworfen. Doktor Smirnow, der Schiffsoberarzt, erlitt das gleiche Schicksal. „Jetzt kannst du dein vergammeltes Fleisch fressen!“ So etwas riefen die Männer der Besatzung höhnisch, als sie ihn untergehen sahen. Einen Augenblick später war der Kommandant dran, den die Matrosen in Unterwäsche aus seiner Koje jagten. „Erbarmen! Erbarmen!“ jammerte er und bekannte, er habe Fehler gemacht. „Ich habe nichts Besonderes gegen Sie, das muß die Besatzung entscheiden“, äußerte Matuschenko. Und er wandte sich an die Besatzung: „Was machen wir mit dem?“ Die Besatzung erinnerte sich daran, daß der Kommandant wenige Minuten zuvor damit gedroht hatte, diejenigen an der Großrah aufzuknüpfen, die den madenverseuchten Borschtsch nicht hinunterschlingen wollten. Und sie beschloß, den Kommandanten auf den Meeresgrund zu schicken, damit er den Fischen befehlen konnte. So kam es wegen des Fleisches dazu, daß der 12 500 Registertonnen große, mit 48 Geschützen gespickte und mit fünf Torpedorohren ausgerüstete Panzerkreuzer der russischen zaristischen Marine „Knjas Potjomkin Tawritscheski“ („Fürst Potemkin von Taurien“) in kürzester Zeit einen Aufstand begann und an seiner Mastspitze die rote Flagge des hundertprozentigen Sozialismus hißte.

(…)

Unruhen in Odessa

Dies war genau jener Zeitpunkt, zu dem der Panzerkreuzer „Potemkin“, nachdem man die rote Fahne gehißt und die Offiziere ins Wasser geworfen hatte, in Sichtweite des Hafens von Odessa kam. Ihn begleitete das Torpedoboot „267“, das sich der Rebellion angeschlossen hatte. Man erzählt, daß der Matrose Wakulintschuk, den die Kugel des Ersten Offiziers getroffen hatte, nicht auf der Stelle starb, sondern für einen kurzen Augenblick noch einmal zu sich kam. Da flüsterten ihm die Matrosen behutsam zu: „Wir haben dich gerächt, Genosse. Wir haben uns die Offiziere vom Hals geschafft, und jetzt sind wir frei!“ Wakulintschuks Lippen gaben einen Ton von sich, der wie „Gut, gut!“ klang. Dann schlossen sich seine Augen. Die Seeleute einigten sich, seinen Leichnam an Land zu bringen, damit er ein würdiges Grab fand. Nun richteten sie einen Aufruf an das Volk und, man fragt sich, warum, an den Konsul Frankreichs. Dem Volk verkündeten die revoltierenden Matrosen: „Das Ende unserer Leiden ist gekommen! Die Regierung ist abgeschafft!“ Dem Konsul Frankreichs legten sie ihre Beschwerden vor und erklärten ihre Absichten: „Niemand, keine Polizei und keine Kosaken, soll das Begräbnis des Matrosen Wakulintschuk behindern, keiner soll sich der Versorgung des Schiffs mit Kohle und Lebensmitteln widersetzen, sonst wird der Panzerkreuzer ‘Potemkin’ aus allen Rohren auf die Schiffe der Tyrannei feuern.“ Die Matrosen hielten Wort und bahrten Wakulintschuks Leiche auf der Hafenmole auf. Dazu teilten sie auf einem Schild mit: „Bürger von Odessa! Vor euch liegt der Leichnam Grigori Wakulintschuks. Der Matrose wurde von einem höheren Offizier brutal ermordet, weil er erklärt hatte: ‘Die Suppe ist ungenießbar!’ Macht das Zeichen des Kreuzes und sagt: ‘Friede seiner Asche!’ Rächen wir uns an den blutrünstigen Vampiren! Tod den Unterdrückern! Tod den Blutsaugern! Es lebe die Freiheit! – Die Besatzung des Panzerkreuzers ‘Potemkin’ – Einer für alle, alle für einen!“ Die Menge zog an dem Toten vorbei, bekreuzigte sich und warf ein paar Kopeken in eine Büchse. Dann lief sie durch die Straßen und rief: „Nieder mit der Autokratie!“, „Es lebe die Freiheit!“ und dazu eine Menge anderer Absurditäten, die den Behörden wenig gefielen.

Der Zar, den man ordnungsgemäß informiert hatte, war verärgert.

„Ich erhielt aus Odessa die erschütternde Nachricht, daß das Kommando des vor kurzem eingetroffenen Panzerschiffes ‘Potjomkin-Tawritschewski’ gemeutert, seine Offiziere ermordet und sich des Schiffes bemächtigt habe. Die Meuterer drohen gleichzeitig, in der Stadt Unruhen hervorzurufen. Es ist schwer daran zu glauben! Der Teufel weiß, was bei der Flotte des Schwarzen Meers vorgeht … Dafür werde ich die Rädelsführer streng und die Aufrührer grausam bestrafen müssen. Nach dem Tee ging ich spazieren und badete im Meer.“

Mit aufgepflanztem Bajonett schritten nun die Odessaer Regimenter gegen die Bevölkerung ein. Es gab nur noch Morde, Plünderungen, Pogrome und Brandstiftungen. Man erlebte furchtbare Szenen. Auf der großen, zum Hafen führenden Treppe mit ihren 192 Stufen und zehn Absätzen flohen die Leute vor dem Tod. Vom Blutbad und seinen näheren Umständen drang nichts oder ganz wenig bis ins Ausland durch. Eine nach London gelangte lapidare Depesche der Agentur Central News teilte mit, daß die Docks, Lagerhäuser und Schiffe in Flammen standen.

Diese Gerüchte oder Tatsachen sorgten in den europäischen Hauptstädten der Finanzen und des Handels für beträchtliche Aufregung. Odessa: das Marseille Rußlands! Das Schwarze Meer, die Meerengen, Bosporus und Dardanellen! Export, Import, Getreide, Leder, Fuchs-, Wolf- und Astrachanfelle, Wolle, Kerzentalg, Pottasche, Hanf, Tabak, Leinöl, Rhabarber, Kaviar … Der zehnte Teil des Handels im Zarenreich wurde über diesen Hafen abgewickelt! Da konnte man sich berechtigte Sorgen machen.

(…)
 

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.