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Cover Lettre International 130, Mark Lammert
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Inhaltsverzeichnis

LI 130, Herbst 2020

Wie Klement verschwand

Agenten, Verschwörer, Revolutionäre – Eine politische Kriminalgeschichte

(...)

Eine Tatsache torpedierte Albert Sarrauts Pläne: Niemand, kein Staat, keine Nation, kein Land, wollte Leo Trotzki aufnehmen. Das ergrimmte mehr als einen Minister des Kabinetts, mehr als einen Parlamentarier. Die Kommentare des Auslands brachten sie in Wut. Einer von ihnen sagte dem Sonderkorrespondenten des Manchester Guardian: „Ich weiß, daß Sie sich in England alle über unsere Entscheidung empören werden, Trotzki auszuweisen, aber warum nehmen Sie ihn nicht selbst auf?“ Ja, warum? Das Vereinigte Königreich, das Ursprungsland des Habeas Corpus, hatte seine Gründe. Der mit dieser Frage betraute Minister Seiner Majestät, ein schottischer Baronet, zeigte seine feste Haltung, als er sich an das Unterhaus wandte: „Die Regierung hat die Aufenthaltserlaubnis abgelehnt, die extremistische Sozialisten für Leo Trotzki verlangt hatten. Unsere Entscheidung ist unwiderruflich.“ (Damit niemand die Entscheidung ignorieren konnte, verbreitete man sie bis nach Tasmanien, der Südspitze des britischen Empire, wo die letzten Beutelwölfe lebten.)
     Wie man annahm, hätte Leo Trotzki gern wie Victor Hugo auf den Normannischen Inseln, auf Jersey oder Guernsey, um Asyl nachgesucht. Dort im Exil hatte der große Hugo Die Elenden verfaßt, Jean Valjean, Fantine, Cosette, diese niederträchtigen Thénardiers, diesen Saukerl Javert ... gestaltet. Und Gavroche, den unvergleichlichen Gavroche. „Je suis tombé par terre, c’est la faute à Voltaire ... Le nez dans le ruisseau, c’est la faute à ...“  Dort, zum Meer hin, im Dachgeschoß seines Hauses Hauteville House, vor Havelet Bay. Doch Sir John Gilmour, der ehrenwerte Innenminister, beurteilte die Lage anders: Man wandte ein, Trotzki habe sein Hauptwerk, seine Geschichte der russischen Revolution, bereits im Exil und auf einer Insel – der Prinzeninsel vor Konstantinopel – geschrieben.
     Aufgrund von Gerüchten war es leicht, Leo Trotzki in der Korsarenstadt Saint-Malo, im Hotel an der Place de la Poissonnerie, ausfindig zu machen. „Der Monsieur von der Zwölf“ nahm Kuchen mit hoch in sein Zimmer und wollte nach Bordeaux fahren. Im Restaurant hatte er eine Makrele mit Tatarensauce verschlungen. Man hatte ihn an seinem Kinnbart und seiner Brille erkannt, die wie auf den Zeitungsphotos aussahen. „Der Monsieur von der Zwölf“ trug eine beige Mütze und nutzte seinen Aufenthalt, um den Mont-Saint-Michel zu besuchen. Dem Gästeregister des Hotels entnahm man, daß er am Freitag, dem 27. April, um elf Uhr von Bord der „Princess Ena“, des aus Jersey kommenden Schiffes, gekommen war und daß er einen in Italien, in Genua, auf den Namen des aus Malta gebürtigen angeblichen Professors Augustin Levanzin ausgestellten Paß hatte. Dem Zimmermädchen bekannte er, daß er „sich dort einrichtete, wo es ihm gefiel und er über Komfort verfügen konnte“. Die Polizei in Saint-Malo wurde alarmiert und nahm die üblichen Überprüfungen vor. Augustin Levanzin, ein maltesischer Bürger, war tatsächlich Augustin Levanzin. Höchst betrüblich war, daß ehrbare ausländische Touristen voller Diplome und guter Absichten mit einem flüchtigen Unruhestifter verwechselt werden konnten. Professor Levanzin hatte doch lange in den Vereinigten Staaten gelebt, kannte Kanada, Australien und Neuseeland, und er arbeitete in der Carnegie-Stiftung mit. Er hatte die „Susal“ genannte Welthilfssprache erfunden, wozu ihn das Maltesische, seine Muttersprache, im voraus befähigte. Augustin Levanzin kannte das Volapük. Der Los Angeles Evening Herald hatte von ihm gesprochen, als er wegen unbefugter Ausübung der Medizin verurteilt worden war. Kurz, der „Monsieur von der 12“ war nicht Trotzki. Schade.
     Die Kinos zeigten Autour de la villa de Trotsky („Rund um die Villa Trotzkis“), einen kurzen Dokumentarfilm von France-Actualités. Darin entdeckte man Barbizon und seinen Bürgermeister, und er lief vor dem Hauptprogramm. Die Kinos nahmen ausgezeichnete Filme ins Programm auf, die das Publikum anlockten, Die Verdammten mit Harry Baur, Königin Christine mit der glänzenden Greta Garbo und Fritz Langs Liliom. Die Zuschauer lernten dafür Marius Roger und Leo Trotzki kennen. Der Club du Faubourg veranstaltete im Kino Demours-Pathé an der Rue Pierre-Demours eine „sensationelle Diskussion“, worin er sich ausgezeichnet auskannte: „War die Ausweisung Trotzkis ein Fehler? Die Ausländer in Frankreich. Das Schicksal der russischen, italienischen, deutschen und spanischen Flüchtlinge.“ Wenn die Leute unterschiedliche Ansichten zu diesem Thema äußerten, so gab es doch einen, der seine Meinung nicht um Haaresbreite geändert hatte: der dicke Léon Daudet mit dem Doppelkinn, der Erbe des Tartarin von Tarascon. Er hatte nur eine Meinung, und daran hielt er fest: „Ich sage es noch einmal: Wenn man Trotzki auf legalem Wege erschossen hätte, wäre dies besser gewesen, als ihn abzuschieben. Ein toter Hund beißt nicht mehr.“
     Allerdings war das in Frankreich nicht so leicht. Es gab kein Dachau wie bei den deutschen Nachbarn und auch keine Insel Ventotene wie bei Mussolini. Einen Moment spielte man mit dem Gedanken, Trotzki auf der Insel Aix vor Fouras im Departement Charente-Maritime festzusetzen. Das ist eine winzige und flache, einen Quadratkilometer große Insel; dort legte man an einer Steinmole an, die vor einigen Festungswerken und einer schützenden Zugbrücke aus der Zeit Vaubans lag. Auf dieser liliputanischen Insel wurde Napoleon I. ein paar Tage gefangengesetzt, bevor ihn die Engländer auf einem Schiff nach St. Helena schickten. Die Insel hatte einen Leuchtturm mit zwei Türmen, einen Semaphor und ein Fort, ohne das einige Kabellängen entfernte Fort Boyard mitzuzählen, das nach Plänen Napoleons I. errichtet und unter Napoleon III. vollendet wurde. An diesem Ort wurden mehrere Anhänger der besiegten Pariser Kommune eingesperrt, bevor man sie nach Neukaledonien deportierte. Sicher hätte dies Trotzki geschmeichelt, hatte er doch im Ural Die Lehren der Pariser Kommune geschrieben, als er, der Oberbefehlshaber der roten Armeen, in seinem Panzerzug durch die unermeßliche Steppe eilte. „Den Kämpfern von 1871 hat es an Heldenmut nicht gefehlt“, notierte er nachdenklich. Aber Trotzki setzte keinen Fuß auf die Insel Aix.

(…)

Statt dessen hatten sie andere Gründe zur Sorge. Das lag an den traurigen Nachrichten, die sie ununterbrochen aus Katalonien erreichten. Manche Genossen meldeten sich nicht mehr. Gute Genossen. Moulin und Wolf. Die letzten, die etwas von ihnen berichten konnten, waren zwei Schweizer aus Basel, die gerade erst aus Barcelona zurückgekehrt waren. Jeder von ihnen hatte seine abgetragene Jacke anarchistischer Milizionäre umgehängt, als das Paar über die französische Grenze kam. In Paris hatten sie es so eingerichtet, daß sie Klement in der Passage Dubail im X. Arrondissement, neben dem Bahnhof Gare de l’Est, treffen und ihm die schmerzliche und bedrohliche Lage schildern konnten. Wann? Das weiß man nicht genau. Sie brachten zuverlässige, jedoch bruchstückhafte Informationen aus Spanien mit. Nicht weit von der Plaça de Catalunya und der Telefonzentrale hatten sie zusammen mit Moulin und der anarchistischen Gruppe Freunde Durrutis Flugblätter auf den Barrikaden verteilt. Damals knallte es in ganz Barcelona. Sie nannten Moulin „den Polen“. Allerdings war er gar kein Pole, sondern ein Deutscher aus Niederschlesien, und lebte wie sie in der Schweiz, er jedoch in Genf, wo er an der Université des Bastions studierte, die eine wunderbar reichhaltige Bibliothek hatte. Er war ein großer, hagerer und, ungewöhnlich für sein Alter, „beinahe glatzköpfiger“ Junge. Einen oder zwei Tage nach den Flugblättern und Barrikaden sahen sie Moulin in einer Schenke zusammen mit Wolf wieder. Moulin teilte ihnen vertraulich mit: „Seid äußerst vorsichtig. Anarchistische Freunde, die in der Polizei arbeiten, haben mich gewarnt, daß sie nach dem Verfasser der Flugschrift Für die Arbeiter-Revolution in Spanien gesucht haben.“ (Der Verfasser war er, der Schweizer.) Damit waren die beiden Schweizer Bürger gewarnt, und sie versteckten sich kurze Zeit in der Calle Muntaner. Doch als sie an Bord eines nach Marseille abfahrbereiten Schiffes steigen wollten, wurden sie im Hafen festgenommen. Männer in Zivil stießen sie in ein Auto und brachten sie zur Puerta del Ángel, dem „Engelstor“.
     Durch einen glücklichen Zufall war ihre Odyssee dort nicht zu Ende. Sonst hätten sie nichts zu erzählen und nicht einmal die Möglichkeit, irgend etwas zu erzählen. Fortan wußte man, daß sich in der Nummer 24 der Puerta del Ángel, in einer beschlagnahmten Villa, ein gesetzloses und unrechtmäßiges Geheimgefängnis befand und daß die Kerkermeister, die es beaufsichtigten, Ausländer waren. Man raunte sich bestimmte Namen zu: ein Berliner mit einer dicken Nase, „Anton“ genannt, ein kleiner Blonder mit Brille, „Hans“ genannt, der Deutsche Fritz, der blaue Augen hatte, der Jugoslawe Gerhardt, der ein gepflegtes Französisch beherrschte. Ihr Vorgesetzter sprach mit russischem Akzent. Die Spanier, die Katalanen bezeichneten diesen Ort als „la Checa“, eine lautgetreue Umschrift des sowjetischen Begriffs „Tscheka“. Das war die Gegenleistung für die Moskauer Hilfe im Bürgerkrieg. Auf die eine oder andere Weise, mit dem Gold der Bank von Spanien und dem Blut der Ketzer, mußte man ja die Polikarpow-Flugzeuge, die Panzer T-26, die Militärberater und den falschen General Kléber bezahlen. Wenn man den GPU-Chef in Spanien gekannt hätte, hätte man keine Peseta und auch keine Kopeke auf ihn gesetzt: ein kleines Männchen mit kleinem Schnurrbart und einem runden, ausdruckslosen Gesicht.

(…)

„Sieh mal!“ rief eines der Kinder, die zum Angeln gekommen waren, um sich die Zeit zu vertreiben. „Da schwimmt ein großes Paket, ganz nahe bei uns. Ob wir mal nachsehen, was drin ist ...“ Sie, ein Junge und ein Mädchen, unterhielten sich am Ufer der Seine, in Meulan, auf der Anlegebrücke des Schlosses Thun, das den Brüdern Rosengart gehörte. Dann sahen sie die Hand, die aus dem Paket herausragte. Nachdem man etwas Zeit gebraucht hatte, um den Wachtmeister Toussaint und den Gendarmen Macheleau zu benachrichtigen und zu stören, machten diese das Paket vollständig auf, das in einem Jutesack und einem Wachstuch mit braunen und weißen Karos steckte. Darin fanden sie einen menschlichen Rumpf und zwei Arme. Einen Körper ohne Kopf. Ohne Beine. An diesem Tag, dem 23. August 1938, einem Dienstag, wohnten Kommissar Vilchien, Hauptkommissar Mallet und Friedensrichter Michel, ein Tolpatsch mit Schnauzbart, Brille und Regenschirm, der Autopsie der sterblichen Reste bei, die Doktor Henri Breitel aus Pontoise vornahm. Wie es in Doktor Breitels Bericht hieß, hatte man den fehlenden Kopf „am Halsansatz sauber abgetrennt“ und die Beine unterhalb der oberen Gelenke abgesägt. Die Untersuchung der – zarten und gepflegten – Hände bewies, daß das Opfer kein gewöhnlicher Proletarier war. Der Mann war durch einen Dolchstich ins Herz gestorben, wobei die Klinge die linke Herzkammer durchstoßen hatte. Das mit Ballast beschwerte Paket war mehrere Wochen im Wasser liegengeblieben, was die übliche Identifizierung durch Fingerabdrücke unmöglich machte. Die ersten Ergebnisse der vor Ort von Kommissar Vilchien und Inspektor Juillet schnell durchgeführten Ermittlungen zeigten, daß Flußschiffer am 13. August, also zehn Tage zuvor, das von der Strömung mitgeschleppte makabre Paket 1 500 Meter flußaufwärts entdeckt hatten.
     Die grauenhafte Entdeckung erinnerte die Vertreter der Polizei an einen ähnlichen, erst vier Monate zurückliegenden Fall: Ein geköpfter Mann, nackt und ohne die unteren Gliedmaßen, in ein gelbes, mit sich überschneidenden blauen und rosa Streifen geschmücktes Wachstuch eingewickelt, steckte in einem Kunstlederkoffer. Ihn fanden zwei ausländische Arbeiter in der Seine, an der Schleuse von La Citanguette, nahe bei Ponthierry. Diese Doppelung war nicht geeignet, die Bevölkerung zu beruhigen. Die Bestinformierten dachten auch an die schrecklichen Morde in Cleveland, im Bundesstaat Ohio, die bisher ungesühnt geblieben waren, obwohl sich Eliot Ness, das frühere As der Polizei Chicagos, in die Ermittlungen eingeschaltet hatte.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.