LI 128, Frühjahr 2020
Cabinet d'amateur
Ein schräger RomanElementardaten
Genre: Essay, Literarische Betrachtung, Rede
Übersetzung: Aus dem Spanischen von Petra Strien
Textauszug: 4.896 von 38.641 Zeichen
Textauszug
(…)
Unlängst erzählte mir meine Freundin Liz Themerson, im Krankenhaus sei es im Moment der äußersten Ungewißheit, als sie nicht wußte, ob sie leben oder sterben würde, weniger Angst gewesen, was sie verspürt habe, als vielmehr eine ungeheure Leere. Nachts konnte sie nicht schlafen und sehnte den Morgen herbei. Als brächte der Morgen ihre Rettung. Ganze Nächte lang schaute sie aus dem Fenster in Erwartung des ersten Morgendämmers. Diese Erfahrung der Leere und des Wartens auf das erste Dämmerlicht – etwas, das auch ich aus eigener Erfahrung kenne – ist ein Gefühl, das aufkommt, wenn der Realismus an Boden verliert und an seiner Stelle der harte Kern des Wesentlichen erscheint, der Dunstschleier der wahren Existenz, der tiefen Identität, die immer fremd und befremdlich ist und über die Raymond Queneau in seiner üblichen Meisterhaftigkeit sagte: „Wie diesem sinnlosen Nebel voller Schatten einen Sinn geben?“
In dieser Erfahrung der Leere steckt, glaube ich, auch so etwas wie das Gefühl, es versäumt zu haben, irgend jemandem das Beste von uns zu geben oder auch nur intensiv genug zu leben. Sicherlich sehnte Liz Themerson den Morgen herbei in der Hoffnung, er werde ihr helfen, die Fesseln der Leere zu sprengen und Wege aufzuspüren, vielleicht sogar Abkürzungen zu finden, die zum nicht kommunizierbaren Kern führen, das heißt, sich auf den Pfad zu begeben, für den jeder andere Namen hat und was ich manchmal „die Kunst, das Negative zu tun“ nenne.
Es ist eine Kunst, die wahrscheinlich zu Anfang des letzten Jahrhunderts mit einem sprachkritischen Brief begann, in dem Hofmannsthal auf das Schreiben verzichtete, im Grunde genommen, um weiter schreiben zu können. Es war ein falscher Abschied, doch mit einem wahren Kern – wie ein Bild mit seinem Positiv und seinem Negativ –, der den Beispielen verschiedener europäischer Dichter vorausging, die bald erkannten, daß Wörter nie ganz transparent sein können, und sich in diesem Wissen selbst in eine Reihe von heteronymen Personen aufspalteten: eine Strategie, die der Unmöglichkeit, sich als kompakte, klar umrissene Individuen zu begreifen, Rechnung tragen sollte. Bereits Montaigne hatte diese Unmöglichkeit bemerkt, als er in seinen Essais über seine täglichen Stimmungsschwankungen schrieb. Eben diese Unmöglichkeit ist es, die uns heute erlaubt, dem zu vertrauen, was wir erzählen, obwohl dieses Vertrauen uns hinsichtlich unseres Platzes in der Welt gänzlich abgeht.
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„Das Negative zu tun“ – ein Motto, das ich vom ersten Moment an unterschwellig auch in I.G. sah – war das Ziel, das ich in mörderischer Absicht in „Die illustrierte Mörderin“ in Angriff nahm, wo die Figur des Schriftstellers, der dem Publikum den Rücken kehrt und in dunkle moralische Tiefen abtaucht, von dem Eindruck inspiriert war, den in den sechziger Jahren der kurze Auftritt des Trompeters Miles Davis in meiner Heimatstadt auf mich gemacht hatte. Ich mag etwa 16 Jahre alt gewesen sein, als ich ihn im Palau de la Música Catalana spielen sah, damals ein Jazzpalast der spanischen Provinz. Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, löste sein Auftritt einen Riesenskandal aus. Daß ich mich noch so genau erinnern kann, liegt daran, daß ich noch nie ein Publikum derart vehement hatte schreien und protestieren hören. Der schwarze Musiker – urteilten die meisten Jazzfans von Barcelona, allesamt sehr orthodox in jenen Tagen unter Franco – hatte ihm den Rücken gekehrt und gespielt, als wollte er sich vor ihnen verstecken. Damals zog ich es vor zu denken, in Wirklichkeit habe Miles Davis sich nicht vom Publikum abgewandt, sondern sich einfach nur umgedreht, um mit sich allein zu sein und so besser, da freier, zu spielen; sicherlich hatte er die ausgezeichnete Akustik in jenem Saal erkannt und geahnt, daß er sich, wenn er nach hinten in die Tiefe der Bühne spielte – vielleicht auch mit Blick auf einen Punkt darunter (ich denke an einen anderen respektlosen Musiker, den großen Thelonious Monk, der manchmal unter seinem Klavier einschlief) –, besser auf seine Musik würde konzentrieren können; letztlich sehnen sich große Künstler immer nach dem einsamen Ruhm.
Tatsache ist, diese vermeintlich verächtliche Geste gegenüber dem Publikum nebst meiner Erinnerung an das skandalöse Geschrei des franquistischen Publikums und mein damals noch unbewußter Drang, Gräben auszuheben und Anstrengungen und Nachforschungen auf dunklerem, unterirdischerem Terrain anzustrengen als die Gräber, in denen meine Freunde ruhten (wie Malcolm Lowry sagen würde), dunkler selbst als die Negative der Photos, die alles einfingen, was es unter Monks Klavier gab, blieb mir als unvergeßlich in Erinnerung. Jene Jazz-Session trug entschieden dazu bei, daß ich begann, eine Literatur zu schreiben, die dem Leser den Rücken kehrte, und ich die ersten Gräben eines Negativs des Positivs der Welt aushob, das diese Literatur mit der Zeit so freundlich sein würde mitzugestalten.
(...)